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Ljudmila Ulitzkaja
Das grüne Zelt
Vom Leben in der Diktatur
Mit Das grüne Zelt legt Ljudmila Ulitzkaja einen opulenten Gesellschaftsroman vor, der ein halbes Jahrhundert Revue passieren lässt
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Ljudmila Ulitzkaja
Das grüne Zelt
Roman
Übersetzer: Ganna-Maria Braungardt
592 Seiten, 24,90 Euro
Carl Hanser Verlag 2012
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Drei Männer – Ilja, Sanja und Micha – und drei Frauen – Olga, Galja und Tamara – spielen die Hauptrollen in Ljudmila Ulitzkajas großem Gesellschaftsroman Das grüne Zelt. Der Zeitraum, über den sich die Handlung erstreckt, nimmt fast ein halbes Jahrhundert ein. Stalins Tod im März 1953 bildet den Auftakt des Buches. An seinem Schluss befindet sich der Leser zusammen mit den Helden an jenem historischen Punkt in der Geschichte des Vielvölkerstaats Sowjetunion, an dem, eng mit dem Namen von Michail Gorbatschow und den Begriffen „Perestroika“ und „Glasnost“ verbunden, eine geschichtliche Wende eingeleitet wurde, in deren Ergebnis die Welt, in der wir heute leben,Gestalt anzunehmen begann.
Ljudmila Ulitzkaja erzählt die Geschichte ihrer Protagonisten, die wir in der Schule kennen lernen und ein Leben lang begleiten, episodisch. Geschickt verflicht sie die 32 Kapitel ihres Romans miteinander, wechselt die Perspektiven, aus denen wir auf das Geschehen blicken, fügt Anekdotisches ein und bringt immer wieder Figuren der Zeitgeschichte wie Boris Pasternak, Alexander Solshenizyn, Andrej Sacharow und Eduard Limonow ins Spiel, die die Authentizität des Erzählten verbürgen. Das führt zwar zu einigen Brüchen und lässt Nebenhandlungen hin und wieder erzählerisch gar zu sehr ausufern – gibt aber alles in allem ein realistisches Bild vom Leben in einem Land, dass sich Großes, ja Einmaliges auf die Fahnen geschrieben hatte, bei der Verwirklichung seiner Vorhaben den „menschlichen Faktor“ aber allgemach aus den Augen verlor und daran dann fast zwangsläufig scheitern musste.
Alle Helden des Romans haben mit Literatur und Kunst zu tun. Ilja verschreibt sich schon früh der Fotografie. Der Jude Micha verfasst Gedichte und engagiert sich im Samisdat. Sanja schließlich kümmert sich nach Michas Verhaftung und in der Zeit, die der in einem Lager verbringt, um dessen Familie. In keinem Moment ihres Lebens lässt die Leidenschaft, zu der sich Ulitzkajas Protagonisten von ihrer Schulzeit an bekennen, sie ruhig in einem System leben, in dem die Künste reglementiert und am liebsten dann gesehen werden, wenn sie sich in den Dienst oberflächlicher Propaganda stellen und den Doktrinen von Staat und Partei nicht widersprechen. Die Lebenstragödien von Ulitzkajas Figuren entspringen denn auch immer wieder aus ihrer Dissidenz der offiziellen (Kultur-)Politik gegenüber, ihren ständig sich erneuernden Versuchen, in einem von Verrat und gegenseitiger Bespitzelung geprägten Klima Freiheitsräume für sich und andere zu erobern.
Steht am Beginn des Romans mit Stalins Tod ein Moment in der Geschichte der Sowjetunion im Mittelpunkt, an dem die Hoffnung auf einen neuen, freiheitlichen Kurs des Riesenreiches kurz aufflackerte, machen die Schicksale der Protagonisten des Romans schnell deutlich, dass das so genannte „Tauwetter“ schnell wieder einem neuen Winter weichen musste. Fortan geht es zwar nicht mehr so mörderisch zu wie zu Zeiten der Schauprozesse und Säuberungen, die Millionen Unschuldiger das Leben kosteten, dennoch müssen alle nach Freiheit sich Sehnenden – und sei es nur die der Kunst – ständig damit rechnen, in die Mühlen staatlicher Gewalt zu geraten, die nicht davor zurückschreckt, Familien dafür haftbar zu machen, was Einzelne für sich und ihresgleichen reklamieren.
Ulitzkajas Panorama einer Zeit, in der bereits der Besitz einer verbotenen Schrift die fürchterlichsten Konsequenzen – von Verhaftungen und Verhören über Berufsverbote, „Bewährungsaufenthalte“ in der Produktion bis hin zu Lager und Exil – nach sich ziehen konnte, zeigt mit Hilfe eines breit angelegten Figurenensembles um ihre sechs Zentralfiguren herum, wie viel Mut und Widerstandskraft, aber auch Verrat und Opportunismus zu einer Gesellschaft gehörten, in der man den eigenen Bürgern mit Misstrauen begegnete und jede freiheitliche Regung bereits im Keim zu ersticken suchte.
Dabei gelingen der Autorin zahlreiche wunderbare Figuren, angefangen mit dem Lehrer Viktor Schengeli, der das literarische Interesse der drei Jungen früh entdeckt und auf ganz ungewöhnliche Weise fördert, über all jene mutigen Menschen, die sich der „vorgutenbergschen Form“ der Verbreitung von Literatur und Kunst widmen, bis hin zu denen, welche sich starrköpfisch in den Dienst des Staates stellen und sich, ohne jedes schlechte Gewissen und obwohl sie selbst über einen ausgeprägten Kunstverstand verfügen, allen „westlichen“ Einflüssen von vornherein verweigern.
Unterm Strich erzählt Ulitzkajas Roman eine tragische Geschichte. Keiner ihrer Protagonisten erreicht in seinem Leben das, wozu seine Talente und Begabungen ihn prädestiniert hätten. Die ständige Rücksicht auf das, was gesellschaftlich opportun ist, der Zwang, sich im Geheimen mit dem beschäftigen zu müssen, dem man sein Leben gern in einer demokratischen Öffentlichkeit widmen würde, verbiegen selbst starke Charaktere. So endet Micha Melamid im Selbstmord, der Fotograf Ilja Brjanski unterschreibt als Spitzel des KGB und Sanja Steklow emigriert schließlich mittels einer Scheinheirat in die USA.
Eine der Frauen, Tamara Brin, erzählt ihrer Freundin Olga auch den Traum, auf den sich Ljudmila Ulitzkajas Romantitel bezieht: „Auf einem riesigen Grasteppich steht ein großes grünes Zelt, davor eine ellenlange Schlange, eine riesige Menschenmenge, und Olga stellt sich hinten an, denn sie muss unbedingt in dieses Zelt gelangen.“ Ehe sich freilich der Vorhang hebt, der sie vom Inneren des geheimnisvollen Ortes trennt, erkennt sie unter den zum Eingang Hindrängenden alle Menschen, die ihr je im Leben begegnet sind - Männer und Frauen, Tote und noch Lebende, Dissidenten und Dogmatiker. Sie alle wollen hinein in das Zelt, das, je näher Olga ihm kommt, umso goldener schimmert und eine Musik und einen Geruch ausströmt, wie sie ihr noch nie begegnet sind. Und doch ist da, als sie es schließlich in ihrem Traum hineinschafft in dieses paradiesische Gefilde, nichts als das plötzliche Aufwachen im nur allzu Bekannten.
Dass die Nachkommen von Ilja und Olga, Sanja und Galja, Micha und Tamara heute in diesem grünen Zelt leben, wird wohl niemand behaupten wollen. Sie werden, so ist zu vermuten, wohl im Gegenteil ihre eigenen Träume von einem Zustand der Welt haben, der zu ideal ist, um je einzutreffen. Allein mit den Osteuropa von Grund auf verändernden Transformationsprozessen der letzten zwei Jahrzehnte haben sich die Voraussetzungen verändert, die Menschen heute auf dem Weg in ihr selbstbestimmtes Leben vorfinden. Es sind noch immer nicht die besten. Aber sie sind besser als jene, die Ulitzkajas Romanfiguren besaßen und all jene realen Vorbilder, nach denen sie geformt wurden und denen das Buch am Ende auch dankt: „... den Standhaften und den weniger Standhaften, den Zeitzeugen, Helden und Opfern, all den Unvergessenen ...“
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