Vladimir Sorokin
Der Tag des Opritschniks
Ein Tag im Leben des Andrej Danilowitsch
Vladimir Sorokins neuer Roman erweckt die Schrecken der Vergangenheit aus Sorge um die Zukunft
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Vladimir Sorokin
Der Tag des Opritschniks
Aus dem Russischen von Andreas Tretner
KiWi 2008
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Russland in knapp 20 Jahren. Die Entfernungen misst man wieder in Werst. Die Höhe eines Wagenrads berechnet sich nach Arschin. Als Zahlungsmittel benutzen die Bürger Goldrubel. Gegen den Westen hat man eine Mauer errichtet und in einem feierlichen Akt hat das Volk am Ende der „Weißen Wirren“ seine Auslandspässe auf dem Roten Platz verbrannt. Es herrscht der „Gossudar“ und über seinen autoritär eingerichteten Staat wacht die „Opritschnina“, eine Organisation, deren Mitgliedern alles erlaubt ist, was der Machterhaltung dient.
Vladimir Sorokins neuer Roman greift auf die Epoche Iwans des Schrecklichen (1530 – 1584) zurück und erweckt dessen berüchtigte, 1565 gegründete Leibgarde zu neuem Leben in der nahen Zukunft. An Recht und Gesetz sind deren Angehörige nicht gebunden. Es wird gemordet, gebrandschatzt, vergewaltigt und gestohlen. Hinrichtungen von Systemgegnern finden in aller Öffentlichkeit statt und wer einen Verwandten oder Freund dem staatlichen Zugriff zu entziehen wünscht, muss dafür teuer zahlen.
Gefürchtet ob ihrer vor nichts zurückschreckenden Brutalität, rasen die Opritschniki in futuristischen, roten Wagen auf eigens für die Staatsmacht angelegten Spuren kreuz und quer durch Moskau. Mit ihrem goldgepuderten Haarbüschel inmitten des kahlen Schädels und dem schweren Goldring mit daran hängendem Glöckchen ohne Klöppel im rechten Ohr heben sie sich ab von allen anderen Bürgern. Ihren historischen Vorbildern entlehnt hat die Eliteeinheit Hundekopf und Besen als Insignien. Steht Letzterer für die Befugnis, mit allen Mitteln Ordnung im Land zu schaffen, so symbolisiert der täglich frisch an der Stoßstange befestigte Tierschädel sowohl Wachsamkeit als auch Gehorsam.
Der Tag des Opritschniks – chronologisch begleitet Vladimir Sorokins Roman seinen dubiosen Helden, Andrej Danilowitsch Komjaga, einen ganz normalen Montag lang von „Dienstgeschäft“ zu „Dienstgeschäft“ – kennt keine Pausen. Beginnt er mit der Liquidierung eines in Ungnade gefallenen Oligarchen samt Vergewaltigung von dessen Frau, müssen danach Auspeitschungen überwacht, die Lesung eines systemkritischen Lyrikers aufgemischt und eine Wahrsagerin konsultiert werden, die mit Hilfe zweier Haarlocken und des entwendeten Hemds eines jungen Kremlgardeoffiziers dessen Libido auf die First Lady des „Heiligen Russland“ lenken soll. Zwischendurch sorgt sich Andrej Danilowitsch um die political correctness nationalistischer Theaterrevuen, beteiligt sich an einer Rauschgiftorgie im kleinen Kreis und registriert hocherfreut, dass die Gegenwartskunst dank vorauseilender Selbstreinigung kaum mehr der staatlichen Gängelung bedarf.
Das alles wird erzählt aus der konsequenten Ich-Perspektive eines Täters, der keine Sekunde an der Richtigkeit dessen zweifelt, was er tut. Für Komjaga gibt es nur Gehorchen. Zum „Gossudar“ schaut er auf wie zu einem Gott. Und wenn dessen sexhungrige Gattin ihn bittet, ihr bei einem späten Frühstück Gesellschaft zu leisten, bleiben ihm die Bissen vor Ehrfurcht im Halse stecken. „Und das ist gut so“, lauten die Worte, mit denen er die Schilderung noch der makabersten, perversesten und brutalsten Ereignisse begleitet, und mit diesem Satz, der tiefstes Einverständnis mit den Dingen signalisiert, endet auch der Roman.
Natürlich hat der Leser es dabei mit einem verfremdeten Kommentar seines Autors zu höchst aktuellen Ereignissen zu tun. Indem Sorokin Tendenzen des Lebens im heutigen Russland aufgreift und sie satirisch in eine böse erdachte Zukunft transponiert, warnt er vor dem Weg, auf dem sich sein Land gerade befindet. Isolationismus, Nationalismus und Blindheit gegenüber den Fehlern der Vergangenheit hält er nicht für geeignet, einer demokratischen Erneuerung Russlands Vorschub zu leisten. Sein Opritschnik kennt nichts jenseits der Doktrinen, für die er mordet. Er funktioniert, weil er ins System eingebunden ist wie in die Kette aus sich penetrierenden Männern, als deren Glied man ihn im wörtlichen wie im übertragenen Sinne in einem der letzten Kapitel sieht.
Dass dieses willenlose Sich-indoktrinieren- Lassen zu den fatalsten Eigenschaften des russischen Menschen zählt, betont Sorokin seit fast dreißig Jahren in seinen Romanen, Erzählungen und Theaterstücken. Immer wieder verfallen seine Figuren überindividuellen Prinzipien, die sie letzten Endes zu Opfern machen. Sie ordnen sich unter und ein und verspielen damit alle ihre potenziellen Chancen auf etwas jenseits des ihnen von oben Verordneten.
In dem berühmten, die sozialistische Mangelwirtschaft karikierenden Roman Die Schlange (1985) stellten sich einst Hunderte Moskauer für Stunden, ja Tage gehorsam in eine langsam auf ein Geschäft vorrückende Kundenreihe, obwohl niemand recht wusste, was es am Ende zu kaufen geben und ob der Vorrat überhaupt ausreichen würde. Allein das geduldige Schlangestehen diente Vladimir Sorokin dabei als Metapher für eine Existenz, die aus ihrer tagtäglichen Entrechtung noch ein kleines Vergnügen zu machen verstand. Nun, im Tag des Opritschniks, geht es, obwohl die russische Gesellschaft inzwischen demokratische Transformationsprozesse durchgemacht hat, im Grunde genommen wieder um dasselbe. Nur scheint das Problem für den Autor inzwischen eine neue Dringlichkeit zu besitzen und wird im Rahmen entsprechend krasserer Bilder behandelt. Nicht weil er diese schöner findet. Sondern weil sie sich deutlicher einbrennen.
Vladimir Sorokin, geboren 1955, gilt als einer der bedeutendsten zeitgenössischen Schriftsteller Russlands. Er wurde bekannt mit Werken wie Die Schlange, Marinas dreißigste Liebe, Die Herzen der Vier, Der himmelblaue Speck und Ljod. Das Eis.
Sorokin ist einer der schärfsten Kritiker der politischen Eliten Russlands und sieht sich regelmäßig heftigen Angriffen regimetreuer Gruppen ausgesetzt.
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Dietmar Jacobsen 14.02.2008
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Dietmar Jacobsen
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