Selma Mahlknecht
Es ist nichts geschehen
Im Schatten der großen Mutter
Das Romandebüt der Südtiroler Autorin ist ein kraftvolles Familienporträt mit archaischen Zügen
Kritik
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Selma Mahlknecht
Es ist nichts geschehen
Roman
Bozen: Edition Raetia 2009
195 Seiten, 19.00 Euro
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Sie heißen Sandy und Bess – und sie sind Schwestern. Sandy, die um drei Jahre Jüngere, hat die Schule abgebrochen und versucht, als Mädchen für alles in einem Südtiroler Hotel Fuß zu fassen. Bess zählt zur so genannten Generation Praktikum und schreibt Bewerbung um Bewerbung, ohne auch nur in die Nähe eines akzeptablen Jobs zu kommen. Miteinander geht man distanziert um, obwohl man sich viel zu sagen hätte. Und wenn die Bedrängnisse zu groß werden, ist immer noch die Großmutter da, die die Wogen mit ein paar Worten zu glätten versteht. Es ist eine merkwürdige Familiengeschichte, die die junge Autorin Selma Mahlknecht in ihrem ersten Roman erzählt. Nach drei Prosabänden, in denen sich bereits andeutete, mit welch großen Talenten die 1979 in Meran Geborene gesegnet ist, darf man angesichts des vorliegenden Buchs von knapp 200 Seiten nun fast von einem Wurf sprechen. Wie hier in einer präzisen, zwischen märchenhafter Poesie und härtestem Realismus ihren ganz eigenen Ton findenden Sprache ein geradezu archaischer Konflikt bis in seine letzten, unausweichlichen Konsequenzen getrieben wird, macht dieses Buch für mich zu einem der herausragenden dieses Jahres.
Erzählt wird Es ist nichts geschehen auf mehreren Ebenen. Was die Schwestern Sandy und Bess in der unmittelbaren Gegenwart umtreibt, erfährt man in von Dialogen geprägten Sequenzen, die bei aller Ausführlichkeit nie darüber hinwegzutäuschen vermögen, dass hier zwei Menschen mehr voreinander verschweigen, als dass sie sich in ihren je eigenen Krisensituationen beistehen. Durchbrochen werden diese Szenen einer kaum stattfindenden geschwisterlich-mitmenschlichen Beziehung durch die in Ich-Form gehaltenen Lebenserinnerungen der Großmutter, aus denen sich letzten Endes die gesamte familiäre Tragik erklärt. Und schließlich flicht der Roman zwischen diese beiden Erzählstränge noch Briefe, ein Märchen und Erzählfragmente aus einem die „offizielle“ Familiengeschichte erzählenden Text ein, der der schriftstellerisch begabten Sandy abverlangt wird, aber nie gelingen will, weil alles, was die junge Frau getreulich dem ihr Erzählten zu Papier bringt, von vornherein einen falschen Klang zu besitzen scheint.
Dass sie dennoch – auch nach einem missglückten Suizidversuch – immer weiter versucht, die Vergangenheit erzählerisch in den Griff zu bekommen, zeigt, wie sehr das einst Geschehene Sandy bis in ihre Träume verfolgt. Und die Ermunterung, mit der Bess das Vorhaben ihrer Schwester begleitet, hat weniger damit zu tun, dass sie der Großmutter mit der erzählten Chronik eine Freude machen will, als damit, dass auch sie sich von Sandys Text Aufschlüsse darüber erhofft, wer oder was die Schuld trägt an der freudlosen Existenz, die die Schwestern seit Jahren umfängt. Weil es freilich innerhalb der Familie an Aufrichtigkeit fehlt, weil man lieber schweigt als sich plötzlich vor entsetzliche Wahrheiten gestellt sieht, lässt sich das Vorhaben, alles Böse und Bedrängende ins Wort zu bannen, letztendlich nur in Form eines Märchens verwirklichen.
Schockierend und schonungslos tritt dagegen die von der Großmutter erinnerte Realität dem Leser vor das Auge. Sie setzt ein mit Kindheit und Jugend der zur Erzählzeit Mittfünfzigerin inmitten einer ländlichen, patriarchalisch geordneten Gesellschaft, wo der Stärkere sich durchsetzt auf Kosten und zum Leid all derjenigen, die weder seine Schlauheit noch seine Brutalität besitzen. Dieser Welt zu entrinnen um jeden Preis wird bald zum Credo einer in den harten Verhältnissen selbst mehr und mehr verhärtenden Frau. Und weil das Schicksal ihr eine Familie beschert hat, in der Liebe, Verständnis und Geborgenheit nicht an der Tagesordnung sind, beginnt sie schon früh, ihre eigenen Vorstellungen von einer idealen Gemeinschaft in die Tat umzusetzen. Wie sie das tut und in welch dichtes Gespinst aus Verdrängtem, Vergessenem und Weggelogenem die beiden Enkelinnen dabei verwoben werden, erfährt der Leser erst nach und nach, ehe der Roman am Ende ein Tempo gewinnt, das seine bemitleidenswerten drei Protagonisten fast wie ein tödlicher Strudel in sich hineinreißt.
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Dietmar Jacobsen
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