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Juli Zeh
Leere Herzen

Unter Postdemokraten

Zehs neuer Roman Leere Herzen spielt in einer Zukunft, in der Gleichgültigkeit und politisches Desinteresse unsere Demokratie unterhöhlt haben

  Kritik
  Juli Zeh
Leere Herzen
Roman
München: Luchterhand 2017
348 Seiten, 20,– €
ISBN 978-3-630-87523-1


Sie heißen Britta und Richard, Knut und Janina. Zwei befreundete Paare in der nahen Zukunft, deren Kinder in dieselbe Schule gehen. Man wohnt in Braunschweig, weil mittelgroße Städte inzwischen der Renner sind – nicht mehr der Prenzlauer Berg in Berlin und auch nicht mehr das Land im viel Platz bietenden Nordosten Deutschlands, das der Schauplatz von Zehs letztem Roman Unterleuten (2015) war. Britta und Richard geht es gut, Knut und Janina, er ein mittelloser Theaterautor, sie mit dem Startup „Schreibmaschine“ nicht unbedingt erfolgreicher, führen prekäre Existenzen. Doch für einen „Grüntee-to-go“ reicht es immer noch, das „bedingungslose Grundeinkommen“ sorgt dafür, dass die wesentlichsten Bedürfnisse befriedigt werden können, und wer sich dennoch unausgelastet fühlt, findet vielleicht in einer der vielen das Stadtbild mitbestimmenden „Sport-ist-öffentlich“ – Gruppen die Erfüllung, nach der er sucht.
  Juli Zehs neuer Roman Leere Herzen spielt unter „schlecht gelaunten Postdemokraten“ im Deutschland des Jahres 2025. Die Regierung Merkel ist Geschichte, die Alt-Kanzlerin vor Jahren schon zurückgetreten. Nun bestimmt – bereits in der zweiten Legislaturperiode – die Besorgte-Bürger-Bewegung (BBB) die Geschicke eines Landes, in dem Schritt für Schritt Demokratieabbau unter dem Stichwort „Effizienz“ betrieben wird. Gerade erst ist das „fünfte Effizienzpaket“ verabschiedet worden, Nummer 6 wird folgen. Polizei und Geheimdienste rüsten derweil auf. Die europäischen Topthemen heißen „Frexit, Free Flandern und Katalonien First!“. International geht es den Vereinten Nationen an den Kragen. Und nichts spiegelt besser die allgemeine Stimmung als „Empty Hearts“, der Popsong der Stunde, in dem es heißt: „Full Hands Empty Hearts/It's a Suicide World/Baby.“
  Britta und Richard, Knut und Janina haben die Vertreter der besorgten Bürger nicht gewählt, aber auch nichts getan, um deren Wahlerfolg zu verhindern. Gleichgültig haben sie sich ihrer Verantwortung entzogen oder, wie es an einer Stelle des Romans zugespitzt heißt, sich zwischen Wahlrecht und Waschmaschine für Letztere entschieden. Nun hockt man zusammen, ist unzufrieden mit den Zeitläuften, profitiert aber andererseits auch wieder von ihnen.
  Denn die von Britta und ihrem Freund und Geschäftspartner Babak gegründete Firma „Die Brücke“ läuft wie geschmiert. Offiziell als „Heilpraxis für Selbstmordprävention“ ausgewiesen, macht man, wenn sich herausstellt, dass der Kandidat nach einem 12-Stufen-Programm, mit dem er von seinem Vorhaben abgebracht werden soll, weiterhin den Tod sucht, das genaue Gegenteil. Man vermittelt ihn oder sie nämlich an eine der zahlreich existierenden radikalen Organisationen, die ihre Ziele – ob das politische, religiöse oder ökologische sind, spielt für die „Brücke“ letztlich keine Rolle – gelegentlich auch gern einmal mit terroristischen Aktionen verbinden. Und da die Zahl der Selbstmordkandidaten beständig steigt, wie ein von Babak entwickeltes Computerprogramm, mit dessen Hilfe man sich seine Kundschaft aus dem Netz fischt, nahelegt, glaubt man sogar, etwas Gutes für alle am Leben Verzweifelnden zu tun, wenn man ihren ultimativen Abgang mit einem hehren Ziel verbindet, das sich der Kandidat auch noch selbst aussuchen darf.
  Doch plötzlich taucht Konkurrenz für die „Brücke“ auf. Im Frachtterminal des Leipziger Flughafens – wie Juli Zeh selbst hat ihre Heldin Britta in Leipzig studiert – werden zwei mutmaßliche Terroristen gerade noch gestellt, bevor sie Schlimmes anrichten können. Stecken Dilettanten hinter dem vereitelten Anschlag oder Leute, die das erfolgreiche Geschäftsmodell der „Brücke“ kopieren wollen? Für Britta und Babak wird es eng, denn auch ihr Leben steht bald zur Disposition. Und während sie fieberhaft versuchen, Sinn in die immer geheimnisvoller werdenden Vorgänge um sich herum zu bringen, wird ihnen auch ihre eigene Haltung der Welt, in der sie leben, gegenüber immer fragwürdiger.
  Leere Herzen ähnelt von seiner dystopischen Anlage her Zehs 2009 erschienenem Roman Corpus Delicti. Die Handlung hat die Autorin diesmal nicht ganz so weit in die Zukunft verlegt wie jene des früheren Romans, in dem der einsame Kampf einer Frau gegen eine Gesundheitsdiktatur mit Orwellschen Zügen im Mittelpunkt stand. Das Gesellschaftsbild, welches Leere Herzen entwirft, ist aber fast das gleiche. Erneut geht es Zeh, wenn sie den Blick nach vorn richtet und Tendenzen, die in unserem Jetzt bereits angelegt sind, durch Zuspitzungen kenntlicher macht, mehr um das Heute als um das Morgen. Hauptsächlich aber um die Gleichgültigkeit jener, deren Flucht ins Private letzten Endes genau jenen gesellschaftlich-politischen Kräften nützt, die gerade nicht die Interessen der Angehörigen jener Schicht vertreten.
  Eingebaut in ihren Roman hat die Autorin eine Art Problemkatalog der nahen Zukunft. Darin werden Besorgnisse aufgezählt, wie sie uns heute Lebenden nur zu vertraut sind: „Zukunftsangst. Burnout. Auflösung der Geschlechterrollen. Zweite Finanzkrise. Zerfall Europas. Verwahrlosung der Unterschichten. Zunehmende Diskriminierung von Randgruppen. Falsche Ernährung. Vereinsamung. Zu wenig Bewegung. Dekadenz. Schuldkomplexe. Das Versagen der Neunziger-Jahre-Eltern bei der Kindererziehung.“ Es liest sich dies nicht zufällig wie das komprimierte Inhaltsverzeichnis einer SPIEGEL- oder ZEIT-Ausgabe unserer Tage. Allein so wie wir hilflos scheinen, was die Lösung all der in dieser Liste versteckten, komplizierten Probleme betrifft, haben die Helden von Leere Herzen sich komplett von allen die Gemeinschaft und ihr Zusammenleben betreffenden Dingen abgewandt und sich dafür entschieden, ihr je eigenes Ding zu machen. Es gibt für sie keinen Plan mehr, kein ihr Handeln strukturierendes Ziel, keine Utopie, für die es sich zu kämpfen lohnen würde. Oder mit den Worten einer von Juli Zehs Figuren: „Wir haben keine Ahnung, wer wir sind. Sein Wollen. Oder sollen.“
  Aussitzen oder Sich-Einsetzen? Andere über sich bestimmen lassen oder mitbestimmen? Demokratie leben oder nur über Demokratie reden? Einfach nur – kopfschüttelnd – zuschauen, wie es mit unserer Welt bergab geht oder etwas tun, sich engagieren? Das sind die Grundfragen, die Juli Zeh auch in ihrem neuen Roman umtreiben. Wer den Weg einer der streitbarsten Autorinnen ihrer Generation, der heute um die Vierzigjährigen, mitverfolgt hat und dabei auch ihren öffentlichen Einmischungen Aufmerksamkeit schenkte, weiß, wie die Autorin selbst sich diesen Fragen gegenüber positioniert.
  Zehs Besorgnis aber gilt der wachsenden Zahl jener Menschen, die diesen Problemen mit Gleichgültigkeit begegnen und damit demokratische Errungenschaften im Glauben, diese seien automatisch und für immer gesichert, preisgeben. Leere Herzen warnt vor solchen Haltungen, indem es deren Folgen auf die Spitze treibt. Es ist nicht Zehs bester Roman, wohl aber einer ihrer engagiertesten. Das „Da. So seid ihr.“, das ihn als Motto eröffnet, darf in diesem Sinne als ein Appell der Autorin an ihre Leser verstanden werden, wieder mehr Verantwortung für den Zustand der Gesellschaft, in der sie leben, zu übernehmen, sich nicht abzuwenden, sondern mitzutun.
Dietmar Jacobsen   07.01.2018    Druckansicht  Zur Druckansicht - Schwarzweiß-Ansicht

 

 
Dietmar Jacobsen