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Jakob Hein
Wurst und Wahn

Der Mann, der Tom Tofu tötete

Jakob Hein debütiert im Berliner Verlag Galiani mit einer Satire, in der Fleischesser und Vegetarier gleichermaßen ihr Fett wegbekommen

  Kritik
  Jakob Hein
Wurst und Wahn
Ein Geständnis
Berlin: Verlag Galiani 2011
101 Seiten, 14,99 Euro
ISBN 978-3-86971-047-1


Der namenlose Held aus Jakob Heins neuem Buch Wurst und Wahn, mit dem der Autor sich unter die Fittiche des hauptstädtischen Verlags Galiani begeben hat, steht eines nicht mehr fernen Tages vor der Wahl, entweder den geliebten Fleisch­gerichten für immer zu entsagen oder totaler gesell­schaft­licher Ächtung anheim­zufallen. Denn plötzlich scheint von all den Menschen, die er kennt, nur noch er selbst in Gänsekeule und Currywurst zu beißen. Vorwurfsvoll sieht man ihn an, wenn er über Geschnetzeltem und Geselchtem hockt, und versucht, ihn mit Falafel, Hummus und Gemüse­aufläufen von seinem ernäh­rungs­techni­schen Irr­weg abzu­bringen. Ja, die Vege­tarier sind end­gültig auf der Über­hol­spur angelangt. Mit der ideolo­gischen Unter­stützung von ein paar Filmen und Büchern haben sie es geschafft, dass „Kopftuch­mädchen, Drogendealer, Wasser­pfeifen­raucher, Klapp­messer­schwinger“ und andere mediterran anmu­tende Gestalten die Letzten sind, welche die Lamm­spieße an den Döner­buden in den No-go-Areas der Stadt für akzeptable Nahrung halten. Dort, wo die auf­geklärte Bevölkerung wohnt, haben Fleische­reien dagegen längst ihre Tore geschlossen und zahllose, von der Verant­wortung für die Zukunft ihres Planeten durch­drungene Zeit­genossen leben allein noch vom Gras und Korn der Bioläden.

Aber was heißt da „leben“? Hart kommt es Heins sein Herz einem Krimi­nal­kommis­sar aus­schüt­tenden Prota­gonisten an, Wurst, Buletten, Schnitzel und Koteletts von einem Tag auf den anderen all jenen zu überlassen, denen das Schick­sal der Erde schnurz ist, so lange sich noch Fleisch im Fleischsalat und Wurst in der Wurstsuppe finden. Bald träumt der Gefrustete rund um die Uhr von Geschmortem, riecht weh­mütig an vergammelten Schnittwurstresten und hat kanniba­listische Fantasien beim Anblick menschlicher Fettschichten. Klar, dass Dinkel-, Soja- und Gemüsebratlinge ihn nicht aufzuheitern vermögen, wenn der „Große Grillteller“ nach wie vor nur 6,99 € kostet. Doch da begegnet ihm Tom Tofu und bietet selbstlos seine Hilfe an.

Wurst und Wahn nimmt sich satirisch all jene Extremisten vor, die aus ihren – manchmal alles andere als langlebigen – Überzeugungen gerne eine Religion machen. Da gibt es dann entweder Proselyten oder Häretiker. Für eine dritte Spezies hat die sauber dualistische Weltsicht der von ihrem Weg Überzeugten einfach keinen Platz. Hein, den der Klappentext des Buches als „be­kennende(n) Mode-Vege­tarier“ enttarnt, hat mit der DDR, die in den meisten seiner bisher vorliegenden Bücher eine Rolle spielte, ganz ähnliche Erfahrungen gemacht. Wer nicht für uns ist, ist gegen uns, hieß es da ein paar Jahrzehnte lang. Wobei das „Für“ die mager bestückten Kaufhallen, den Grauschleier über dem Alltag und all jene aufregenden Partei­versammlungen einschloss, in denen trübe Gesichter über der letzten Honecker­rede hingen wie über dem ersten Buch Mose. Und damit der Blick nicht allzu gierig auf die Regale in den West-Supermärkten fallen konnte, hatte man ihn durch eine schöne hohe Mauer verstellt.

Wenn der am Ende aus Verzweif­lung mordende Protagonist von Wurst und Wahn nach seinem Paradigmen­wechsel Unter­stützung braucht, gerät er bald zwischen ähnlich gelagerte Fronten. Da ist zum einen die Clique um Tom Tofu, den Mann, der in seinem Internet-Blog noch zaudernden Fleisch­fressern das vege­tarische Leben schmackhaft macht. Dessen Kontrahent - ebenfalls eine dubiose Gestalt aus dem Netz – nennt sich „bruehwuerfel69“, heißt eigentlich Bert und präsentiert den „karnivaren Untergrund“. Beide verfechten ihren jeweiligen Standpunkt und sind nicht bereit, auch nur einen Fußbreit zu weichen. Bis der, welcher ihnen ausgeliefert ist wie einst Hans Castorp den Herren Naphta und Settembrini, erkennen muss, dass es sich bei diesen verbis­senen Aktivisten um nichts anderes handelt als die zwei Seiten ein und derselben Medaille. Da fühlt er sich zu Recht genasführt und schlägt zu.

Jakob Heins „Geständnis“ eines Mannes, der als Opfer zivi­lisatorischer Glaubens­kriege in einer Zukunft, von der wir wohl nicht mehr so weit entfernt sind, zum Täter wird, glänzt mit vielen wunderbaren Einfällen. Nicht jede Pointe sitzt, aber das Ganze trifft einen Nerv. Bücher wie Karen Duves An­stän­dig essen. Ein Selbst­versuch (2011) – übrigens im gleichen Verlag erschie­nen wie Heins Text – und Jonathan Safran Foers Tiere essen (2009, deutsch 2010 bei Kiepenheuer & Witsch) haben erst jüngst zur Sensi­bili­sie­rung der Öffent­lich­keit hinsichtlich eines lange mild belächelten Vegetarismus bei­getragen. Heins satirisch-fiktiver Vorgriff, der in einer Fußnote ironisch anmerkt, er sei nicht in Ziegen­leder gebunden, um einer breiteren Leser­schaft den Zugriff zu ermög­li­chen, ist nicht als Replik auf solche und ähnliche Werke miss­zuverstehen. Er will nur vor den Über­treibungen warnen, die aus einer gut gemeinten Sache schnell eine Ideologie machen, die die Welt in Anhänger und Gegner unterteilt. Und das gelingt ihm gar nicht schlecht.
Dietmar Jacobsen   05.10.2011   

 

 
Dietmar Jacobsen