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Natalja Kljutscharjowa
Dummendorf
Ein Sommer auf dem Lande
In Natalja Kljutscharjowas zweitem Roman Dummendorf sucht ein naiver Städter nach dem wahren Leben
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Natalja Kljutscharjowa
Dummendorf
Roman
Aus dem Russischen von
Ganna-Maria Braungardt
Berlin: Suhrkamp Verlag 2012
144 Seiten, 12,00 Euro
ISBN 978-3-518-12640-0
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Man fühlte sich an die berühmte Reise nach Petuschki erinnert, als vor zwei Jahren Natalja Kljutscharjowas Debütroman Endstation Russland in der deutschen Übersetzung von Ganna-Maria Braungardt erschien. Zwar trank Kljutscharjowas Held Nikita nicht halb so viel wie der legendäre Ich-Erzähler Wenedikt Jerofejews, doch steckte hinter seiner Eisenbahn- Odyssee kaum weniger Bitterkeit über die ihm im Gewand fantastisch-übertriebener Geschichten begegnende russische Realität seiner Zeit. Rieb sich Wenedikt Jerofejew 1973 an der sozialen wie seelischen Verkrüppelung des Menschen unter der Sowjetmacht, musste der Student Nikita 35 Jahre später erkennen, dass auch nach dem System- und Wertewandel, den die 90er Jahre des letzten Jahrhunderts dem russischen Riesenreich brachten, noch einiges im Argen liegt.
Das tut es auch in Natalja Kljutscharjowas neuem Roman Dummendorf. Der hat erneut einen Mann auf der Suche nach sich selbst und dem richtigen Leben zur Hauptfigur. Mitja ist ein junger Historiker in der Sinnkrise. 28 Jahre alt, hat er sich lang genug mit dem Universitätsbetrieb abgeplagt, um zu wissen, dass ihm der Sinn nicht nach dem abgehobenen akademischen Umgang mit der Geschichte steht: „Mich in Papieren vergraben? Mir bei Dissertationsverteidigungen den Arsch breitsitzen, mir anhören, wer wen beeinflusst hat? Das Matriarchat im Paläolithikum? Die Geschichte der Nagelschere? Für wen?! Wozu?!“ Rettung verspricht er sich von der Praxis. Und so macht er sich eines Tages auf, um als Geschichtslehrer an einer Dorfschule seinen Platz im Leben zu finden.
Es ist mehr Gogol als Jerofejew, wenn man für den Roman Dummendorf wieder nach einem Paten aus der reichen Literatur Russlands Ausschau hält. Kljutscharjowa präsentiert eine Mischung aus Dorfroman, Märchenidylle und bitterer Sozialsatire. Wie einst Gogols falscher Revisor wird Mitja voller Misstrauen von den Bewohnern des Örtchens Mitino, das er sich wegen der Ähnlichkeit ihrer beider Namen als kommende Wirkungsstätte ausgesucht hat, empfangen. Es geht das Gerücht, die Schule, die nur noch aus 11 Schülern und zwei - sich die Fächer untereinander teilenden – betagten Lehrerinnen besteht, solle demnächst aufgelöst werden. Erst als er den Verdacht, er sei der mit der Schließung beauftragte Inspektor, ausgeräumt hat, wird Mitja deshalb als neue Lehrkraft für die geisteswissenschaftlichen Disziplinen willkommen geheißen und bei einem steinalten Ehepaar untergebracht. Wie sich herausstellt, bleibt ihm eine ganze Menge Zeit, sich an die dörflichen Verhältnisse zu gewöhnen. Denn der grundnaive Bursche hat ganz vergessen, dass noch ein paar Wochen Ferien sind, bevor die Schule am 1. September wieder beginnt.
In 17 Kapiteln konfrontiert Natalja Kljutscharjowas Buch seinen Helden mit den dörflichen Realitäten. Da ist Vater Konstantin, der kurz vor Mitja eingetroffene neue Geistliche des Ortes, dessen Modernismus die konservativen Kirchgänger abschreckt. Da sind die Männer – alkoholabhängig, brutal, desinteressiert an Veränderungen und voller Hass allem Fremden gegenüber. Da sind die nicht gerade mit Geist begabten, aber pragmatisch denkenden Lehrerinnen und das ihnen anvertraute junge Gemüse in den Schulbänken. Und da sind schließlich die Bewohner von „Dummendorf“, einem ein wenig außerhalb gelegenen Ortsteil, wo sich misstrauisch von den Einheimischen beäugte Freiwillige um geistig und körperlich Behinderte kümmern.
Alles in allem wohl ein Abbild des heutigen Russlands, wie es die Autorin sieht: erdverhaftet und sich allem Neuen erst einmal verweigernd, misstrauisch auf den eigenen Vorteil bedacht und aus Zukunftsangst auch die Bedrückungen der Gegenwart auf sich nehmend, denunziatorisch, wenn es fürchtet, Veränderungen könnten in Gang kommen und das Althergebrachte samt der schönen Lebenslethargie beseitigen. Und mittendrin ein auf der Suche nach sich selbst mal hierhin, mal dorthin Stolpernder, der sich, nachdem er erste Berührungsängste verloren hat, immer mehr für die Bewohner jener kleinen Enklave interessiert, in der neue Formen des Zusammenlebens ausprobiert werden.
Kljutscharjowa versteht es ausgezeichnet – mal realistisch, mal überhöhend, mal märchenhaft-fantastisch, mal pointiert, von Witz zu Tragik wechselnd und zurück –, diesen kleinen Kosmos, in dem sich doch ein großes Ganzes verbirgt, für ihre Leser lebendig werden zu lassen. Ihren Helden Mitja führt sie zu der Erkenntnis, dass sich die großen Sinnfragen ganz von allein beantworten, wenn man sich nur auf das Leben einlässt: „Das Leben geschehen lassen, ihm nicht seine eigene Richtung aufzwingen. Wirklich, ich finde nichts schlimmer als Menschen, die wissen, wohin sie wollen, und die geradewegs auf ihr Ziel losmarschieren. Sie bemerken das Leben gar nicht. Und zerstören es mit Leichtigkeit. Das eigene und das fremde.“ Das Experiment „Dummendorf“ aber lässt sie scheitern – ein bornierter Alter denunziert es bei der Obrigkeit, am Ende geht es gar in Flammen auf. Denn so märchenhaft sich auch manche Episode in diesem kleinen Roman lesen mag – mit der Wirklichkeit, die dahintersteht, ist er deshalb noch lange nicht einverstanden.
Weitere Kritik: Natalja Kljutscharjowa: Endstation Rußland (Dietmar Jacobsen)
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