„Bulgarien ist ein grauenhaftes Land – nein, weniger dramatisch: ein albernes und schlimmes.“ Seine Berge, Wälder und Auen – grässlich, schließlich ist man nicht als Natur- und Tierfreundin unterwegs. Die berühmten Chöre, erinnernd an Orpheus, der einst in den hiesigen Bergen die Leier schlug – man wolle bitte die Mänaden nicht vergessen, die den Sänger schlachteten, bulgarische Ur-Ur- So geht das weiter, in einer einzigen großen Erregung, erinnnernd an den ganz großen Zornversprühenden der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts, Thomas Bernhard. Aber der brauchte zur Not auch keinen Grund, um über Gott und die Welt, den Kulturbetrieb und den Tourismus, die liebe Kollegenschaft und Österreich im Allgemeinen herzufallen mit seinen Suaden. Oder er konstruierte sich halt einen, wenn sich grad nichts ergeben wollte. Sibylle Lewitscharoffs Heldin mit der schlechten Laune hat einen, einen guten sogar: den Vater nämlich. Den schwemmte das zweite große Völkerschlachten des 20. Jahrhunderts einst in Stuttgart an, ja nicht nur ihn, sondern mit ihm 18 seiner Landsmänner samt einer Landsfrau. Die kleine bulgarische Kolonie sah zu, dass sie sesshaft wurde, überwand schnell alle bösen Erinnerungen an die zurückliegenden Kriegserlebnisse, versah sich mit properen, blonden Bräuten und reüssierte. Frauenarzt wurde der Vater, Kristo mit Namen, zwei Töchter zeugte er und im Gegensatz zu seinen übrigen Landsleuten schien die Linke seine politische Heimat zu sein. Doch wenn er in den Träumen der erwachsenen Schwestern auftaucht, die eine verheiratet, die andere nicht, dann hat er immer den Strick des Selbstmörders dabei, der das Letzte ist, was die Träumende vor dem Erwachen sieht. Apostoloff ist Abrechnung und Erinnerung in einem. Zorn und eine zwischen den Tiraden sich verbergende Zärtlichkeit, deren Objekt sich früh entzog und die deshalb in Bitternis umgeschlagen ist, prägen den Text der heute in Berlin lebenden Autorin (Jg. 1954) zu gleichen Teilen. Dem hat der titelgebende Cicerone durch das postkommunistische Bulgarien – die Erzählerin nimmt nur Korruption, mafiose Umtriebe und eine vom Massentourismus zerstörte Natur wahr – wenig entgegenzusetzen. Und gegen die bulgarische Infektion ist die Erzählerin zusätzlich durch eine große Reisebibliothek geschützt, in der Stifter und Martin Amis, Hans Blumenberg und Thomas Pynchon, Beckett und andere stehen. Übrigens ist man unterwegs, um die sterblichen Überreste des Vaters samt denen aller im schwäbischen Exil verstorbenen Bulgaren in die Heimat zurückzuführen. Eine Aufsehen erregende Reihe großer Limousinen, gesponsert vom reichsten der ehemals Stuttgarter Bulgaren, der mit der Aktion gleich noch ein zukunftsweisendes Geschäft – eine „raffinierte Methode in Sachen Menschenbeseitigung“ – verknüpft, bewegt sich durch halb Europa, zu Wasser und auf dem Land, bis nach Sofia, wo die Urnen in einem geschmacklosen Grabmonument ihren letzten Aufbewahrungsort finden. Am Ende aber ist es geschafft. Das war's, sagen sich die Schwestern und falsche Sentimentalität lassen sie gar nicht erst aufkommen, wenn sie zum Flughafen fahren, um nicht nur das Kapitel „Bulgarien“ für immer abzuschließen, sondern auch unter jenes mit der Aufschrift „Vater“ einen Schlussstrich zu ziehen. Eine abschließende Vision macht deutlich, wie endgültig das ist. In einem ihren Daihatsu überholenden schweren Geländewagen erscheint den beiden Frauen für einen Moment die Vision ihrer ganzen Familie, wie sie einst war: der Vater am Steuer, die Mutter mit sturem Gradausblick neben ihm, die beiden Töchter schweigend auf der Rückbank. Das hat nichts Bedrohliches mehr und führt nur zu dem schönen Fazit: „Nicht die Liebe vermag die Toten in Schach zu halten, denke ich, nur ein gutmütig gepflegter Hass.“ Sibylle Lewitscharoffs Roman ist sprachlich brillant, verliert gegen Schluss allerdings ein bisschen von der Verve, die einen zu Beginn in die Geschichte hineinzieht wie ein Magnet. Mit Witz und Ironie seziert die Autorin eine Familie, deren melancholisches Oberhaupt früh ausschied, und zeigt an zwei sehr unterschiedlichen Töchtern, welche Leerräume das hinterlassen hat. Der aufarbeitenden Rede der Jüngeren folgt man mit Vergnügen, verbergen sich doch hinter all dem Gift und all der Galle, die sie eloquent versprüht, Verletzungen und frühes Leid, die nicht so einfach aus der Welt zu schaffen sind. Dazu bedarf es tatsächlich einer großen Sprachanstrengung, die alles mit dem Vater im Zusammenhang Stehende bewusst herabzieht, damit die Waagschale des Lebens sich endlich heben kann.
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Dietmar Jacobsen
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