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Judith Schalansky
Der Hals der Giraffe
„Wer den längeren Hals hat, lebt auch länger“
In Judith Schalanskys Roman Der Hals der Giraffe erfährt eine Biologielehrerin schmerzhaft, dass die darwinistische Entwicklungslehre wohl doch nicht alles ist
Kritik |
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Judith Schalansky
Der Hals der Giraffe
Bildungsroman
Berlin: Suhrkamp Verlag 2011
222 Seiten, 21,90 Euro
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Jetzt mal ganz ehrlich: Erinnern Sie sich noch an Ihren Biologielehrer bzw. sein weibliches Pendant? Nein, tun Sie nicht? Na, sehen Sie – mir geht es nämlich genauso. Ich glaube sogar, Biologie zählt zu den Fächern, die man nicht so richtig ernst nimmt. Mathematik – na klar. Englisch – aber hallo und am liebsten schon im Kindergarten. Aber Biologie? Im Grunde wartet man all die Jahre, die man mit Kreuzblütlern, Wirbellosen und Säugetieren verbringt, ja sowieso nur auf das eine Thema. Danach ist endgültig Schluss mit dem biologischen Interesse. Oder rennt einer von Ihnen heute noch in seiner Freizeit mit dem Schmetterlingsnetz durch den Wald und seziert Ochsenaugen, wenn ihm mal langweilig ist? Nein, beantworten Sie die Frage nicht! Staunen Sie lieber mit mir darüber, dass die in Greifswald geborene Judith Schalansky einen ganzen Roman über eine Biologielehrerin geschrieben hat. Die Frau macht einem zwar das Fach auch nicht sympathischer, aber wer verlangt das schon von einer literarischen Figur.
Der Hals der Giraffe heißt Schalanskys Roman übrigens. Es ist das Werk einer Autorin, die ihre Bücher auch selbst designt und dafür schon etliche Preise gewonnen hat. Nichts bleibt deshalb dem Zufall überlassen. Der Band fasst sich an wie meine alte DDR-Ausgabe von John Reeds Zehn Tage, die die Welt erschütterten (Dietz Verlag, Berlin 1988): grobes, graues Leinen, das die Finger nicht abrutschen lässt und einen Schutzumschlag überflüssig macht, indem es den Eindruck vermittelt, sich selbst hinreichend schützen zu können. In zwei Schrifttypen sind die wesentlichsten Informationen aufgeprägt und dem auf dem Titel sich findenden Giraffenskelett fehlt der Kopf, was die Aufmerksamkeit auf den Körperteil lenkt, der dem Buch seinen Titel gegeben hat.
Im Text selbst braucht es übrigens eine ganze Weile, bis man zum ersten Mal auf den Giraffenhals stößt. Dann aber wird sofort klar, warum dieser Roman gar nicht anders heißen konnte. Denn Inge Lohmark, Biologie- und Sportlehrerin am Charles-Darwin-Gymnasium einer kleinen Stadt im „vorpommerschen Hinterland“, geht ganz auf in ihrem biologistischen Weltbild. Demnach hat der Giraffenhals es vormals geschafft, sich über Generationen hin so zu strecken, dass das Tier auch in Dürrezeiten bequem an die höher hängenden Blätter herankommen konnte. „Und alle anderen, alle die, die sich nicht genug angestrengt haben, die bleiben kurzhalsig und gehen jämmerlich zugrunde ... Das Leben ist ein Recken und Strecken. Für jeden Einzelnen von uns.“
Doch wenn Inge Lohmark sich umschaut in ihrer neunten Klasse, dann fällt ihr Blick auf lauter „Kurzhalsige“, um im Bild zu bleiben. Keinem der zwölf Letzten ihrer Art – der Landstrich entleert sich und das Darwin-Gymnasium wird schließen, wenn dieser Jahrgang sein Abitur gemacht hat – traut sie zu, als Sieger aus den aktuellen Überlebenskämpfen hervorzugehen. Nein, da sitzt nur „Nachschub fürs Rentensystem“, für den sie keinen „Hochverrat am Prädikat Sehr gut“ begehen wird. „Ganz ohne Tobsuchtsanfall und Schlüsselbundwerferei“ lässt sie jeden einzelnen der zwölf Schüler spüren, dass er ihr ausgeliefert ist. Ohne neumodische „Kennenlernspiele“ und die „Integrationswut“ jener erst kürzlich von den Universitäten gekommenen Lehrer zählen bei ihr allein Leistung, Pünktlichkeit, Sauberkeit und „das Prinzip der Auslese“. Nachhilfestunden, Hausbesuche und psychologische Gutachten? „Es lohnte einfach nicht, die Schwachen mitzuschleifen. Sie waren nur Ballast, der das Fortkommen der anderen behinderte.“
Man könnte seitenlang so weiterzitieren. Und es macht – zugegeben – auch großen Spaß, dieser fast ins Groteske übertriebenen Figur bei ihren inneren Monologen, mit denen sie den Schulalltag über ein Jahr hin begleitet, zuzuhören. Denn sie ist durchaus eloquent, wenn auch auf eine Art, die einen schaudern macht. Allein einen ganzen Roman mit den Sottisen dieser Frau zu füllen, die zu DDR-Zeiten auch hin und wieder einen „Bericht“ geschrieben hat und nichts mehr hasst als Nähe, Verständnis und „Anbiederei“, weil die in ihrem darwinistischen Weltverständnis nichts zu suchen haben, ginge wohl schlecht an. Und so lässt Judth Schalansky eines Tages in dieser trockenen Predigerin der Naturgesetzlichkeiten ein Gefühl entstehen. Und stürzt sie damit unversehens in die Krise ihres Lebens.
Einen „Bildungsroman“ hat die Autorin ihr Buch im Untertitel genannt. Und es scheinbar mit Bildung überfrachtet.“Naturhaushalte“, „Vererbungsvorgänge“ und „Entwicklungslehre“ heißen die drei großen Abschnitte, in die der Roman unterteilt ist. Im Kopf jeder ungeraden Seite erfährt das Thema des jeweiligen Abschnitts dann noch einmal eine fachspezifische Untergliederung. Und wie man das von einem Exkurs in biologische Grundfragen auch nicht anders erwartet, lockern Zeichnungen von Quallen, Seekühen, Pantoffeltierchen und anderen evolutionären Sensationen den Text auf. Über all den Fakten und Zusammenhängen, die den Bildungshorizont der Inge Lohmark abstecken, ist eine Art von Bildung ihr aber ganz offensichtlich abhanden gekommen – die Bildung des Herzens nämlich.
So trifft es sie mit Wucht, wenn sie plötzlich entdeckt, dass ihr – bei aller programmatischen Distanz zu ihren zwölf Eleven – eine Schülerin wohl doch ein wenig mehr bedeutet als die anderen. „Das Heidekraut“ hat sie diese Erika in ihren persönlichen Notizen am Anfang des Schuljahres getauft und qualifizierend festgehalten: „Gepflegte Traurigkeit in geneigter Haltung. Sommersprossen auf milchiger Haut. Abgekaute Fingernägel. Strähniges, braunes Haar. Verrutschtes Auge. Fester, schiefer Blick. Müde und gleichzeitig wach.“ Die Art ist mit diesen trockenen Sätzen gültig beschrieben. Dass das Mädchen sie als Individuum selbst immer mehr anzieht, kann Judith Schalanskys Protagonistin dennoch nicht leugnen. Deshalb tut und denkt sie Dinge, derer sie sich nie für fähig hielt. Und übersieht zur gleichen Zeit, dass das Klima unter den ihr anvertrauten Jugendlichen sich auf gefährliche Weise zu verändern beginnt.
Eine Schlüsselszene zum Verständnis der Hauptfigur dieses brillanten kleinen Romans findet sich kurz vor dessen Schluss. Denn natürlich steht Inge Lohmark nicht allein in der Welt. Sie hat einen Mann und eine Tochter. Während Wolfgang Lohmark sich ganz der Straußenzucht widmet, die er sich als neue berufliche Perspektive nach der Wende gewählt hat, lebt Claudia seit mehr als einem Jahrzehnt in den USA. Dass sie inzwischen verheiratet ist, hat eine kurze Mail vermeldet. Einst saß sie – schüchtern, schweigsam und allein – im Biologieunterricht und hatte wohl das von ihren Klassenkameraden zu erdulden, was Lehrerkinder in der Regel zu erdulden haben. Bis sie in einer verzweifelten Aktion mitten in einer Schulstunde auf ihre Mutter zuging und um deren Schutz bat. Doch die Lehrerin verweigerte, was allein der Mutter zugestanden hätte, und stieß das Kind zurück und zu Boden: „Vor der ganzen Klasse. Natürlich war sie ihre Mutter. Aber zuallererst ihre Lehrerin … Niemand ging zu ihr. Niemand tröstete sie. Auch sie nicht. Es ging nicht. Vor der ganzen Klasse. Nicht möglich. Sie waren in der Schule. Es war Unterricht. Sie war Frau Lohmark.“
Der Hals der Giraffe ist ein Buch, in dem mehr zwischen den Zeilen steht als in ihnen. Wem es gelingt, die starre Maske seiner Hauptfigur lesend zu durchdringen, der findet jemand, dem es immer schwerer fällt, mit sich und der Welt zurechtzukommen. Inge Lohmark will ihre Gefühle verstecken und wird doch im selben Moment von ihnen heimgesucht. Sie hängt an ihren Überzeugungen und handelt gleichzeitig gegen sie. Biologische Mechanismen, denen sie ihr Leben unterordnete, werden von vitalen Regungen verdrängt. Inwieweit sie denen in ihrem speziellen Fall nachgeben sollte, ist eine zweitrangige Frage. Allein dass sie da sind, aus der Tiefe an die Oberfläche drängen, lässt den Leser am Ende hinter einer funktionierenden Maschine auch einen Blick auf den Menschen Inge Lohmark erhaschen. Auch wenn es da vielleicht schon zu spät ist.
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