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Wulf Kirsten

Brückengang

Die lange Brücke zum eigenen Werk

Mit einer Sammlung von Wulf Kirstens Essays aus den letzten 10 Jahren gratuliert ihm sein Verlag zum 75. Geburtstag

Kritik
  Wulf Kirsten
Brückengang
Essays und Reden
Zürich: Ammann Verlag 2009
286 S., 21.95 Euro


Der Dichter Wulf Kirsten macht es seinen Lesern nie einfach. Den am 21. Juni 1934 in Klipphausen nahe Meißen Geborenen zu lesen, war und ist immer mit Anstrengung verbunden. Wer den jetzt – sozusagen als Geburtstagsgeschenk des Zürcher Ammann Verlags an seinen Autor – erschienenen Band mit gesammelten Reden und Essays aus dem letzten Jahrzehnt liest, bekommt schnell eine Ahnung davon, warum das so ist. Denn Kirsten nimmt uns in seinen aus unterschiedlichen An­läs­sen ent­standenen Texten umstandslos mit hinein in eine Gedankenwelt, die weite Dimen­sionen hat, auf ein paar unver­rückbaren Grund­über­zeugungen – poetischen wie solchen des Lebens – ruht, sich aber auch durch die Souve­ränität auszeichnet, mit der sie Neuem begegnet.

Mit der so häufig von Kollegen und Kritikern gerühmten Kirsten-Diktion – Martin Walser hat sie als eine bezeichnet, mit der „man sich verproviantieren kann gegen Geschwindigkeit, Anpassung, Verlust“ –, behutsam und genau, den jeweiligen Gegenstand zum Leuchten bringend, ohne ihn an einen voreiligen Spruch zu verraten, wird in Brückengang nach Dankworten anlässlich von Preis­verleihungen gesucht, den Bitten von Akademien und Dichter­gesell­schaften nach Auskünften zur eigenen Poetik und deren Genesis entsprochen oder einfach der Fokus der Öffent­lichkeit auf Zeit­genossen bzw. Vorgänger / Vorgänge­rinnen gelenkt, die ihm Pfeiler waren und sind für jene lange Lektüre­brücke, auf der er sich zum eigenen Ufer gehen sieht.

Zu den schönsten der versammelten 25 Texte – darunter zwei deutsche Erstdrucke und ein aus dem Französischen übertragener Beitrag zu einem von Bibliothèque de France und Sorbonne gemeinsam veranstalteten inter­nationalen Kolloquium – zählen jene, in denen Kirsten zu den Land­schaften seines Lebens Auskunft gibt. Denn wenn er über Meißen schreibt oder das Weimarer Land – der gebürtige Sachse lebt seit mehr als 40 Jahren in der Thüringer Klassikerstadt und prägt ganz maßgeblich deren kulturelles Klima mit –, versteht man schon nach wenigen Zeilen, wie eng hier dichterische Inspiration, die Worte, die sie sich (er-) findet, und der Boden, auf dem sie wächst, zusammen­gehören.

Vor allem aber begreift man nach der Lektüre dieser Elogen auf die Aura von Orten jene für Kirstens Schreiben grund­legenden Bedeutungs­diffe­renzen zwischen Landschaft und Natur einer-, Landschaft und Staat anderer­seits. Indem „Landschaft“ in diesen Oppositionsg­efügen immer etwas grund­sätz­lich anderes meint als ihr begriffliches Gegenüber, wird sie erst auf jene unver­wechselbare Art und Weise gestalt- und ausdrückbar, wie man das vor allem aus den Gedichten des Autors kennt. Wulf Kirsten wächst damit die Kraft zu, seine „kleine Heimat“ jenseits aller politischen Tages­geschäftig­keiten und ganz auf das Ursprüngliche, Nicht-Kultivierte reduziert, mit seiner Sprache zu vergegen­wärtigen. Als Dichter ist ihm diese Trennung so unver­zicht­bar, „als wäre es um die von mein und dein gegangen“.

Aber auch andere Dinge erscheinen so wichtig, dass sie wie Leitmotive die vorliegenden knapp zwei Dutzend Texte durchziehen. Dazu gehören die für das lyrische Werk der Annette von Droste-Hülshoff, welches Kirsten als schulemachend bis weit in das zwanzigste Jahrhundert hinein empfindet, charakteristischen Eigenschaften Wahrhaftigkeit und Genauigkeit. Den „Werternst“, mit dem die westfälische Dichterin noch an die kleinsten, unscheinbarsten Dinge ihrer Lebenswelt heranging, findet ihr Bewunderer wieder bei Dichtern unter­schiedlichster Couleur und Sprache, nicht zuletzt bei seinem Lehrer Georg Maurer, der ihn und andere Vertreter der so genannten „Sächsischen Dichter­schule“ einst just zu dieser Präzision des Ausdrucks anhielt.

Lebensbeschreibung, bekennt Wulf Kirsten, sei das meiste, das in den letzten Jahrzehnten aus seiner Feder hervorging: „Ein Abwälzen von Lebens­stoff, der sich im Gedächtnis sedimentär abgelagert hat.“ Letztlich brachte diese Art der Aus­einander­setzung mit sich und seiner Welt den Drang zur „eigene(n) Geschichts­findung“ hervor. Leben in zwei Diktaturen, mit den Früh­prägungen vor 1945 und den „willent­lich geschichts­verzer­renden Gege­ben­heiten im Osten Deutschlands nach 1945“, warf, einmal in seiner Begrenztheit erkannt, zurück auf sich selbst und die Nische einer anders verstandenen „Heimat“, zu der auch die Literatur einen gegenwelt­bildenden Beitrag lieferte.

In diesem Sinne darf sich der Leser eingeladen fühlen, gemeinsam mit Kirsten aus den Werken bekannter und weniger bekannter Autorinnen und Autoren – von Marie Luise Kaschnitz und Horst Bienek über Ludvik Kundera und Christian Wagner bis zu Karl Schloß, Walter Rheiner und Jakob van Hoddis – zu schöpfen. Was einem Meister zu überleben half bis in sein 75. Jahr hinein und hoffentlich noch viele Jahre länger, sollte uns anderen ja wohl auch nicht zum Schaden gereichen.
Wulf Kirsten begeht am 21. Juni 2009 seinen 75.Geburtstag.
Dietmar Jacobsen     19.06.2009   
Dietmar Jacobsen