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Jürg Amann
Die Reise zum Horizont
18 still alive
In Jürg Amanns Novelle Die Reise zum Horizont wird eine historische Tragödie zur Parabel über das Menschsein und seine Grenzen
Kritik |
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Jürg Amann
Die Reise zum Horizont
Novelle
Haymon Verlag 2010
103 Seiten | 16,90 Euro
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Sie schreiben es in den Schnee: 18 still alive. Kurze Zeit später sind es nur noch 16 Menschen, die nach einem Flugzeugabsturz in den Anden ihr Leben behalten haben. Nichts weiter, nur ihr Leben. Aber um das beginnen sie zu kämpfen. Und je länger dieser Kampf dauert, umso mehr zivilisatorische Schranken fallen. Bis sie sich schließlich von ihren eigenen Toten ernähren, um zu überleben.
Der Fall ist bis in die Einzelheiten hinein überliefert. „Uruguayan Air Force Flight 571“ startete am 12. Oktober 1972 in Montevideo mit dem Ziel Santiago de Chile. Schlechte Witterungsbedingungen zwangen zu einer Zwischenlandung. Am 13. Oktober wurde der Flug fortgesetzt. Orkanartige Winde und Schnee behinderten auch an diesem Tag die Navigation. Weil der Pilot sich bereits jenseits des gewaltigen Andenmassivs wähnte, begann er den Sinkflug zu früh und verursachte dadurch die Katastrophe. Die Turbopropmaschine streifte einen Berggipfel und zerschellte in 4000 Metern Höhe. Von den insgesamt 45 Menschen, die in Montevideo an Bord gegangen waren, wurden nach 72 Tagen des Überlebenskampfes 16 gerettet.
Amanns straff komponierte Novelle bedient sich der „Wir“-Perspektive, um eine existenzielle Grenzsituation zu beschreiben. „Wir“ – das sind die Passagiere und Besatzungsmitglieder des Unglücksflugs 571. „Wir“ – das sind „alle, die den Absturz überlebt hatten, und alle, die den Absturz nicht überlebt hatten.“ „Wir“ – das sind Menschen, die eben noch wie Ikarus über die Wolken aufstiegen und nun vor der Erkenntnis stehen, wie ausgeliefert sie den Elementen sind, wenn all jene Apparaturen, die ihnen ein gottgleiches Gefühl der Überlegenheit gaben, plötzlich nicht mehr existieren.
Aber auch die Leser des Textes dürfen sich in dieses „Wir“ einbeschlossen fühlen. Denn keiner der 40 kurzen, zwei-, maximal dreiseitigen Abschnitte, aus denen das Buch besteht, lässt Distanz zu. Keine der Entscheidungen, die die Überlebenden zu treffen haben, um den nächsten Tag, die nächste Woche, vielleicht ja das nächste Jahr, die nächsten Jahre zu erleben, berührt Bereiche, von denen wir prinzipiell ausgeschlossen wären. Im Gegenteil: Wir haben nur das Glück, nicht wie jene um ihr Leben kämpfenden Passagiere aufs Äußerste herausgefordert zu sein, ein sehr fragiles Glück.
Was gilt noch, was gilt nicht mehr, wenn es um die nackte Existenz geht? Was bleibt außer Zeit und langsam verblassenden Erinnerungen an ein Vorher, wenn Gott kein Zeichen sendet, Beten nicht helfen will, die wenigen Vorräte zur Neige gehen und die Welt einen im Übrigen längst aufgegeben hat und sich egoistisch fernab weiterdreht? Hoffnung, ja, aber die macht nicht satt. Und von den vielbeschworenen Werten, auf denen sich die Sonderstellung des Menschen unter allen anderen Lebewesen so einfach begründen lässt, bleibt nur noch sein Nährwert übrig – der Wert, den ein toter Körper konserviert, um den Hunger der noch Lebenden zu stillen.
Es sind Momentaufnahmen, die Amann in beeindruckend konzentrierter Sprache aneinanderreiht. Blicke in einen Abgrund, der zeitweise jede humane Regung zu verschlingen droht: „Wir fielen übereinander her. Die Übriggebliebenen. Männer und Frauen. Es spielte jetzt keine Rolle mehr. Wir ließen alles über uns kommen, das kommen wollte.“ Hunger nach Leben ist das, Hunger nach all den verpassten Möglichkeiten, all der verpassten Liebe, der auf diese absurde Weise gestillt werden soll. Aber wenn man dann an die letzten Tabus stößt, vor die Frage gestellt ist, ob man sich vom Fleisch der Toten, vom Fleisch der eigenen Verwandten nähren soll, um nicht selbst sterben zu müssen, da ist die Grenze wieder da, jener Horizont, den sich der Mensch einst selbst gesteckt hat.
Die Novelle endet mit dem Aufbruch jener 16, die einen Tag vor Heiligabend 1972 schließlich gerettet werden sollten. An ihr Ziel lässt sie Jürg Amann bis zum Schluss des Buches nicht mehr kommen. Ihm geht es allein um den Aufbruch und die nie versiegende Hoffnung auf Erlösung: „Etwas Besseres als den Tod vielleicht nicht, aber den Tod jedenfalls finden wir überall, sagten wir uns. Keinen besseren, aber auch keinen schlechteren als hier. Wenn wir schon sterben mussten, dann lieber im Gehen, unterwegs, auf der Reise hinter den Horizont.“
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