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Herbert Genzmer
Abzittern

Das Ende des Alleinseins
Herbert Genzmers neuer Roman beschwört die Scheinwelten des Internets als Lebensfallen

Herbert Genzmer | Abzittern
Herbert Genzmer
Abzittern
Roman
Mitteldeutscher Verlag 2008
Herbert Genzmers neuer Roman Abzittern steckt – wie eine besonders kostbare Frucht – in einer doppelten Schale. Zum einen gibt er sich durch ein Nachwort des Autors, in dem dieser betont, nur der Herausgeber der auf ihn gekommenen Aufzeichnungen seiner Hauptfigur zu sein, einen pseudorealistischen Anstrich und pocht damit auf eine höhere Wahrhaftigkeit, als sie Literatur (also Erfundenes) in der Regel verbürgt. Zum anderen ist die Handlung des Romans – die, fern jeglicher Modernität, ganz konventionell dargeboten wird – als Binnenerzählung in einen Rahmen gesperrt. Darin wird von einer Lesung in Baden-Baden berichtet, die für den Autor Gerold Beck, Genzmers Ich-Erzähler, böse endet.

Bevor es freilich zum (für den mitdenkenden Leser nicht ganz so) überraschenden Showdown im letzten Romankapitel kommt, lässt uns das Buch teilnehmen an einer Odyssee seiner Hauptfigur bis hin zum westlichen Rand Europas. „Abschwirren, abzittern, einfach weg sein“, noch einmal ganz von vorn anfangen will Genzmers Protagonist, und die sofort beim Schopfe ergriffene Gelegenheit, als Ghostwriter für den dubiosen Fernheiler Josef Pentland tätig zu werden, gibt ihm auch die finanziellen Mittel an die Hand, von heute auf morgen aus seinem in Routine erstarrten Leben auszubrechen. Dass der Roman von den angebotenen Vokabeln für den Eskapismus seines Helden ausgerechnet das Abzittern als Titel wählt, darf dabei getrost als Hinweis darauf verstanden werden, mit wie viel uneingestandener Furcht Becks Aufbruch von Anfang an verbunden ist. Mit zitternden Knien in die Freiheit – welch ein Neubeginn!

Genzmers Held – er ist Ende 40, also im idealen Alter für die berüchtigte Midlife-Krise, besitzt Heim, Frau und Freunde in Düsseldorf, man kennt ihn als mäßig erfolgreichen Schriftsteller, der sein schmales Budget mit gelegentlichen Auftragsschreibereien aufbessern muss – begibt sich allerdings, ohne dass dies von vornherein geplant gewesen wäre, gleich im doppelten Sinne auf gefährliche Bahnen. Geografisch führen ihn diese über Frankreich (Mont Roland) und Spanien (Port de la Selva, Llafranc, Madrid) nach Portugal (Lissabon, Luz, Salema), wo er mit seinem mephistophelische Züge tragenden Auftraggeber in dessen Villa zu einer gemeinsamen Arbeitswoche verabredet ist und es schließlich auch zum endgültigen Bruch ihrer Beziehung kommt. Weitaus wichtiger aber für ihn, der auf seinem Laptop gerne harmlose Internetspielchen treibt, ist der Hinweis einer flüchtigen Unterwegsbekanntschaft auf die Parallelwelten der Internet-Chaträume.

Fortan erliegt Beck zunehmend deren Verlockungen. Und was aus Neugier und mit einer gehörigen Portion Skepsis beginnt, wird bald zur alles andere verdrängenden Obsession. Im virtuellen Dialog mit einer Frau und deren Partner kreiert er für sich eine neue Identität, indem er in die Rolle einer Frau schlüpft. Wie ungenügend diese Erfindung wirklich ist, machen freilich bald die aufwändigen Versuche deutlich, über die erfundene Spielfigur sich selbst als realen Menschen wieder ins Gespräch zu bringen. Die von ihm Erschaffene und mit einer kompletten Biografie Ausgerüstete lenkt die Aufmerksamkeit des nur an ihr als Realkontakt interessierten Pärchens nach und nach auf ihren Schöpfer und dessen bevorstehende Lesung in Baden-Baden. Als sich dort schließlich Wirklichkeit und Schein treffen und vermengen sollen, kommt es zur vorherbaren Katastrophe.

Abzittern nimmt – darin nicht unähnlich den geschilderten virtuellen Räumen – seinen Leser vom ersten Moment an gefangen. Und auch wenn schon bald zu ahnen ist, in welch raffinierte Falle Gerold Beck tappt, verfällt man bei der Lektüre zunehmend diesem Sog. Am großartigsten gelingen Herbert Genzmer freilich jene atmosphäregeladenen Momente, da er seinen Helden tagsüber oder nachts durch fremde Städte streifen lässt, wie das exemplarisch etwa das Kapitel „Barcelona-Madrid“ vorführt. Hier reihen sich die einfachen Beobachtungen evidenten Lebens aneinander zu einer sicht-, hör- und riechbaren Großstadtsymphonie, der gegenüber die monotonen Gesprächsfetzen aus den chatrooms – die für meinen Geschmack in zu großer Zahl und ausführlicher protokolliert, als es nötig wäre, in den Roman Eingang gefunden haben –, tatsächlich nur Abklatsch sind.

Genzmers Buch ist hochaktuell insofern, als es mit den Möglichkeiten und Grenzen des Internets spielt. Es macht aber auch sehr deutlich, dass zwischen dem Leben, welches jeder von uns tatsächlich lebt, und den fantastischen Parallelbiografien, die man sich online zulegen kann, ein großer Unterschied besteht. Wer beides miteinander vermischt und glaubt, aus der einen Welt heil in die andere und von da problemlos wieder zurück „switchen“ zu können, stößt schnell an seine und des Netzes Grenzen und scheitert hier wie da.
Herbert Genzmer wurde 1952 in Krefeld geboren und lebt als Autor, Übersetzer und Dozent in Tarragona und Berkeley. Neben seinen Erzählungen und Romanen schreibt Genzmer auch Reiseberichte und Bücher zur Grammatik und Rhetorik.
Der Roman Abzittern beim Mitteldeutschen Verlag

Dietmar Jacobsen     14.06.2008

Dietmar Jacobsen