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Peter Wawerzinekt
Schluckspecht
„Alkohol hilft wie ein Freund, ist aber keiner.“
Peter Wawerzineks neuer Roman Schluckspecht ist eine Trinkerbiografie, in die der Autor viel Selbsterlebtes gepackt hat
Kritik |
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Peter Wawerzinek
Schluckspecht
Roman
Berlin: Verlag Galiani 2014
464 Seiten, 19,99 €
ISBN 978-3-86971-084-6
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Peter Wawerzineks Roman-Ich wächst bei seiner Tante Luci und deren Mann, Onkelonkel genannt, auf. Als nicht geplante Folge einer kurzlebigen Schauspieler- Liaison haben seine leiblichen Eltern das Kind der Schwester des flatterhaften Vaters überlassen. Hier fühlt es sich zu Hause: „Ich lege den Vater auf Eis. Ich lege die Mutter auf Eis. Mein Kopf ist ein Kühlfach.“ Alles andere als unterkühlt freilich gestaltet sich das Verhältnis zu den Pflegeeltern. Die Tante – ein „Lachsack in Kittelschürze“, ketterauchend und mit einer Stimme wie Janis Joplin in Ekstase. Der Onkel – ein Technikfreak, „Nuancenschmecker“ und Angler, in vielem das Gegenteil der Tante, einer, der im Garten sitzt und davon überzeugt ist, dass die Welt zu ihm kommt. Liebreizende Menschen eben, die sich um den ihnen anvertrauten Jungen kümmern. Aber halt auch Trinker – der Onkel bekennend, die Tante eher heimlich.
Und so beginnt alles ganz harmlos. Mit einem Likörchen an Heiligabend: „Kirsche mit Nussgeschmack. Sonnengereift.“ Und nach dem Gläschen folgt – wie ein Mantra – der übliche Trinkspruch der Tante: „Egészségedre Pálinka!“ Prost, Pálinka! Wobei Pálinka gar nicht so ungefährlich ist, wie das fremdländisch-reizvolle Wort für den Heranwachsenden klingt, der ohnehin ein Faible für die Sprache besitzt und mit ihr spielt von Kindheit auf. Der ungarische Obstbrand hat nämlich in der Regel einen Alkoholgehalt von bis zu 55 Prozent. Doch egal, das Kind ist damit eher initialisiert denn abgeschreckt: „Meine Träume hießen allesamt Egészségedre Pálinka und spielten in lila gefärbten Räumen aus Glas mit raffiniertem Schliff wie Tante Lucis Likörglas. Egészségedre Pálinka hat mich verführt und fallen gelassen.“
Nach seinem mit dem Bachmann-Preis ausgezeichneten Roman Rabenliebe (Galiani 2010), der Geschichte eines verlassenen Kindes auf lebenslanger Muttersuche, ist Schluckspecht Peter Wawerzineks nächster Versuch, literarisch ein Thema zu bearbeiten, das ihn höchstpersönlich betroffen und an einen existenziellen Scheideweg geführt hat: Alkoholismus. In 15 Kapiteln und auf fast 500 Seiten lässt er seine Leser teilhaben an einer Trinkerbiographie, die mit einem vorsichtigen Nippen am Likörglas der Tante beginnt, später dann freilich für Jahre unter Suchtkranke und in Heilanstalten führt. Das Ganze kommt nicht ganz so konzentriert daher wie sein Vorgänger, entschädigt für ein paar allzu ausufernde Kapitel und die eine oder andere Redundanz aber durch seine Sprache und das spürbare Bemühen um rückhaltlose Offenheit.
Was bei Onkel und Tante jedenfalls unter dem Vorzeichen der Abschreckung beginnt – „Hast du es gesehen, Junge? Hat du gesehen, wie es mich geschüttelt hat? Riech nur, da riech, wie des Teufels Atem riecht!“ –, nimmt später jene Wege, die jeder kennt, der selbst einmal mit Alkohol zu tun hatte oder Alkoholiker zu seinen Bekannten zählt. Aus dem, der um Gottes Willen kein Schluckspecht werden soll, weshalb die Tante ihm immer wieder ihr Likörglas unter die Nase hält, wird gerade einer. Einer der trinkt, um leben zu können. Ohne Maß, immer jenseits des Limits, bis das Licht ausgeht.
Wie Wawerzinek, der hier erneut ein Stück der eigenen Biografie aufarbeitet, diesen Prozess des Sich-Verlierens an den Alkohol beschreibt, ist so großartig wie verstörend. Nichts lässt der Roman aus, wenn er den Absturz eines Menschen dokumentiert: nicht die alltägliche Pein, wenn der Weg aus der Kneipe nach Hause zu einem Lauf durch Irrgärten wird, nicht die anderen bereiteten Enttäuschungen, nicht die Einsamkeit des Trinkers nach dem Suff. Jedes Hochgefühl ist kurz und hat seinen Preis. Jeder Euphorie folgen Dumpfheit des Hirns und Selbstanklagen – bis es wieder Abend wird und das Licht aus den Fenstern der Kneipen anziehender ist als alles andere auf der Welt und der verhängnisvolle Kreislauf in seine nächste Runde geht.
Aber einmal ist Schluss. Dann nämlich, wenn sich die Erkenntnis durchsetzt: „Am Anfang ist der Säufer noch Mensch. Am Ende ist dieser Mensch nur noch Säufer.“ Wawerzineks Erzähl-Ich braucht zu seiner Rettung wieder die Tante. Als guter Geist taucht sie nach dem Tod des Onkels noch einmal auf und befördert den geliebten Ziehsohn unter seinesgleichen in eine norddeutsche Entzugsklinik, ins „Haus hinter dem Deich“. Dort hat der namenlos bleibende „Doktor“ eine Therapiestation aufgebaut, in der er seine Patienten dazu bringt, ihr Leben aufzuschreiben und die Gegenwart mithilfe von Fotos zu dokumentieren. Damit man die Scheu vor dem weißen Blatt Papier schnell verliert, gibt es zusätzlich noch den Rat, zu seinem beschädigten Ich durch die Wahl der Er-Form auf Distanz zu gehen, alle Scham und Pein einer Figur zuzuschieben, die wie von Ferne fokussiert erscheint. Und aus dem Ich-Erzähler, der schon immer eine besondere Affinität zu den Wörtern hatte, der sie „wie Nüsse knacken“ konnte, sie in ihre Bestandteile zerlegen und ihren verborgenen Sinn zu enthüllen vermochte, wird in fünf Jahren ein Schriftsteller – und ein Mensch, der das Trinken endlich zu kontrollieren vermag.
Für Peter Wawerzinek, den jungen, genialisch sich gebärdenden Poeten aus der Prenzlauer-Berg-Szene war Alkoholgenuss ohne Maß einst eine Art von Widerstand. Wer soff, war anders und demonstrierte dieses Anderssein durch seinen Rausch. In Kneipen wurde offener gesprochen als am Arbeitsplatz, ja mancher redete sich im Rausch sogar um Kopf und Kragen.
Als es dann mit der DDR vorbei war, als die östlichen Landschaften nach den ersten „Wahnsinn!“-Schreien doch nicht so schnell blühen wollten wie prophezeit, erwischte auch Wawerzinek die große Depression. Ein Freund – und keine Tante Luci – schickte ihn in den Norden auf Genesungstour. Sein Weg führte ihn zunächst als Stipendiat in die „Villa Grassimo“, sprich: nach Wewelsfleth ins Alfred-Döblin-Haus, wo Günter Grass dereinst an seinem Butt geschrieben hatte. Dort befreundete sich der Schriftsteller mit Gert Gedig, der seit 1983 den „Eulenhof“ – im Roman wird der „Ulenhof an der Stör“ daraus – leitete, eine „private, vollstationäre, soziale Langzeitrehabilitation der gemeindenahen, dezentralen, psychiatrischen Versorgung des Landes Schleswig-Holstein“, wie es auf der Website der Einrichtung und fast gleichlautend in Wawerzineks Text heißt. Den hier praktizierten Methoden vertraute sich der Dichter über Jahre hin an. Seine beiden danach erschienenen Romane – Rabenliebe und nun Schluckspecht – dürfen deshalb wohl nicht zuletzt auch als Zeichen gesehen werden, dass die Therapie angeschlagen hat.
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