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Vladimir Sorokin
Telluria

We're all living in Telluria

Vladimir Sorokin zeichnet in den 50 Kapiteln seines neuen Romans Telluria das Bild einer Welt, die nur noch im Vollrausch zu ertragen ist

  Kritik
  Vladimir Sorokin
Telluria
Roman
Aus dem Russischen von
Kollektiv Hammer und Sichel.
Verlag Kiepenheuer & Witsch 2015
414 Seiten, 22,99 €
ISBN 978-3-462-04811-7

Weitere Kritik von Dietmar Jacobsen
zu Vladimir Sorokin
Der Tag des Opritschniks  externer Link



Gleich ein ganzes Übersetzerkollektiv – sechs Damen und zwei Herren, die unter dem anspielungsreichen Teamnamen „Hammer und Nagel“ auftreten – hat es gebraucht, um das neue Buch von Vladimir Sorokin, Telluria, ins Deutsche zu übertragen. Was auf den ersten Blick vielleicht ein wenig merkwürdig erscheinen mag, wird verständlicher, wenn man sieht, dass die 50 Kapitel, in die der Text des russischen Avantgardeschriftstellers unterteilt ist, eigentlich gar keine Teile eines sich unter dem Strich zum literarischen Ganzen Fügenden sind, sondern 50 in sich abgeschlossene, stilistisch stark differierende Einzeltexte, denen nur der Kontext einer zukünftigen Welt, auf die sie sich allesamt beziehen, ein Gemeinsames verleiht, aus dem sich letztlich dann auch die Genrebezeichnung „Roman“ begründen lässt.
  Telluria nimmt seine Leser mit in eine Zeit – man befindet sich ungefähr in der Mitte des 21. Jahrhunderts –, die wie aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gemischt erscheint. Geopolitisch landet man auf dem Doppelkontinent Eurasien, der, darin ganz aktuelle Tendenzen unserer Tage aufgreifend, in viele kleine und Kleinststaaten zerfallen ist. Allein auf dem Gebiet des ehemaligen russischen Reiches, das von drei historisch nacheinander auftretenden Männern (Lenin, Gorbatschow und Putin sind gemeint) im Laufe eines Jahrhunderts ruiniert wurde, existieren nebeneinander 15 Gemeinwesen mit völlig unterschiedlicher gesellschaftlicher Ausrichtung. Da gibt es die Stalinistische Sozialistische Sowjetrepublik (SSSR), das schon aus den Sorokin-Texten Der Tag des Opritschniks (2006) und Der Zuckerkreml (2008) bekannte „Moskowien“, eine Art zaristischer Ordnungsstaat mit kommunistischer Ideologie, sowie die ein reines Russisch als verbindliche Sprache deklarierende, allem Modernen abholde „Republik Rjasan“.
  Aber auch in Europa haben die jahrelangen Kämpfe gegen den andrängenden Islam alte Ordnungen längst zerstört. Deutschland ist in etliche Kleinstaaten zersplittert – gerade wird in Köln der erste Karneval nach langer wahhabitischer Besatzungszeit gefeiert. Von Frankreich aus operiert der wieder erstarkte Templerorden militärisch gegen Orte, aus denen die fremden Invasoren noch nicht vertrieben sind. Im Grunde aber fehlt eine übergeordnete Idee, ein Plan, der gemeinsam verwirklicht, ein Ziel, das angestrebt werden könnte. Jeder wurstelt auf seine Art vor sich hin. Endzeit ist angesagt.
  Nur eines scheint es noch zu geben dass alle eint: die Gier nach so genannten Tellurnägeln, die, von kundigen Zimmermännern an bestimmten Stellen in den Kopf eingeschlagen, alsbald die schnöde Wirklichkeit verschwinden lassen. Richtig platziert, verleihen die begehrten Keile geistige wie körperliche Kräfte, entführen den Menschen in Paradiese, die es realiter auf der Erde nicht mehr gibt, und machen glücklich in unglücklichen Zeiten.
  Tellurium – von Lateinisch „tellus“ (Erde) –, im Periodensystem der Elemente unter der Ordnungszahl 52 auffindbar, ist ein in der geringen Häufigkeit seines Vorkommens dem Gold, mit dem es auch verschiedene mineralische Verbindungen eingeht, ähnliches Element. Bei Sorokin wird es zum Grundstoff einer wirklichkeitsverändernden Droge und hat einen ganzen, aufgrund seiner riesigen Tellur-Vorkommen mächtig prosperierenden Staat enstehen lassen: Telluria.
  Wie schon in seinen letzten Büchern hat Vladimir Sorokin in Telluria in die Zukunft verlegt, was eigentlich auf die Gegenwart gemünzt ist. Von gemeinsamen globalen Ideen haben sich die vielen Zwergstaaten, in die das Buch uns mitnimmt, längst gelöst. Überall werden andere Götter angebetet, unterwirft man sich den merkwürdigsten Ideologien, um zu überspielen, wie orientierungslos man eigentlich ist, wimmeln Taliban, chinesische Okkupanten, kommunistische Hardliner und wiederauferstandene Templer durcheinander. War es in der dreiteiligen Romanreihe Ljod – das Eis, Bro und 23.000 (2002 bis 2009) das Herz von ein paar tausend Auserwählten, welches mit den Schlägen von speziellen, aus dem Eis des Tunguska-Meteoriten gefertigten Hämmern zum „Sprechen“ gebracht wurde, so hämmert man nun Nägel aus dem Superstoff Tellur in die Köpfe der Menschen, um sie vergessen zu lassen, dass die Welt, in der sie leben, nicht nur absurd, sondern schlichtweg ausweglos ist. Betäubung statt Erleuchtung, Allmacht im Rausch statt Ohnmacht in der Realität, Wahn statt Wirklichkeit.
  Viele Erzählfäden, die der heute 60-jährige Sorokin in seinem bisherigen Werk gesponnen hat – angefangen mit dem zuerst in Frankreich erschienenen Roman Die Schlange (1985), der an dem Symbol der sowjetischen Mangelgesellschaft, einer langen Reihe von nach seltenen Konsumgütern tagelang anstehenden Menschen, seine Sozialismuskritik festmachte, und seinen bisherigen Schlusspunkt findend in der „klassischen“ Novelle Der Schneesturm (2010) –, nimmt Telluria wieder auf. Es ist deshalb sicher nicht falsch, in ihm eine Art opus magnum des Autors zu sehen. Sein Werk in die Nachbarschaft der Bücher des Franzosen Michel Houellebecq zu stellen, wie das viele Interpreten immer wieder tun, scheint mir allerdings etwas gewagt. Denn wesentlich intensiver als der Autor von Die Möglichkeit einer Insel und Unterwerfung bedient sich Sorokin der künstlerischen Mittel der literarischen Camouflage und der Stilimitation.
  Letzteres führt dazu, dass die fünfzig Kapitel des Romans den Eindruck vermitteln, als wären sie stückweise aus anderen Büchern herausgebrochen – wobei nicht einmal ihre aktuelle Abfolge zwingend erscheint. Ständig ändern sich Textsorte, Genre und Stil. Das reicht vom Bittbrief bis zur dramatischen Szene, vom Volksmärchen bis zum Gespräch zwischen zwei Wesen mit Hundeköpfen – Cervantes und E.T.A. Hoffmann lassen grüßen –, vom Lexikoneintrag bis zum Langgedicht, von der Radioreportage zum sentimentgeladenen Brief. Mal wird eine Geschichte aus den unterschiedlichen Perspektiven der an ihr Beteiligten dreimal anders erzählt, mal erinnert der innere Monolog eines Kentauren sprachlich an James Joyces berühmtes Eingangskapitel zum Ulysses, dann wieder ist russischer Realismus des späten 19. Jahrhunderts angesagt, der urplötzlich in den Sound der Avantgardisten wechselt, ehe die Phrasen des Sozialistischen Realismus den Leser mit ihrem falschen Pathos erschrecken.
  Und auch in puncto Figurenensemble kann Houellebecq nicht mit Sorokin konkurrieren. Lässt Letzterer doch ein komplettes literarisches Bestiarium auf seine Leser los. Das reicht von Riesen über verschiedene sprechende Mischwesen bis zu bramarbasierenden Penissen, einem wie Batman mit weit gespannten Flügeln fliegenden Staatspräsidenten und tödlichen Killerrobotern, die sich auf Zugüberfälle spezialisiert haben. So fließen in Telluria die Welt der Märchen und Mythen und diejenige der Literatur der letzten Jahrhunderte ineinander, wimmelt es von Anspielungen auf die jüngere Zeitgeschichte und ihr Personal. Als Ausweg für den einzelnen, ansichts des waltenden Chaos ohnmächtigen Menschen bleibt letztlich nur die Hoffnung auf die einfachen Dinge des Lebens: „Hauptsache, Dach übern Kopf, wos nicht reinregnet, und was zu fressen.“ Es sei denn, er kann es sich leisten, dem Ganzen mit Hilfe eines perfekt platzierten Tellurnagels in seinem Hirn zu entkommen.
Dietmar Jacobsen   02.03.2016    Druckansicht  Zur Druckansicht - Schwarzweiß-Ansicht

 

 
Dietmar Jacobsen