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Annika Scheffel
Bevor alles verschwindet
Im Tal der blauen Füchse
In Annika Scheffels zweitem Roman Bevor alles verschwindet wehrt sich ein kleiner Ort gegen den Untergang
Kritik |
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Annika Scheffel
Bevor alles verschwindet
Roman
Berlin: Suhrkamp Verlag 2013
412 Seiten, 19,95 EUR
ISBN 978-3-518-42354-7
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Ein Dorf soll verschwinden. Der Ort, in dem Jula und Jules, Mona und Marie, die alte Greta und Martin Wacholder, der Bürgermeister, ihr ganzes Leben verbracht haben, ist einer Freizeitoase im Weg. Einem Erholungsgebiet rund um einen Stausee, der mit seinen Wassermassen bald alles bedecken wird: die örtliche Kneipe, „Tore“ genannt, das Haus des Bürgermeisters mit seiner weißen Aufgangstreppe samt den Löwenskulpturen, den Friedhof und die kleine Kapelle darin. Schon sind die ersten „Verantwortlichen“ in der Gegend gesichtet worden – Abgesandte der „Poseidon Gesellschaft für Wasserkraft“, rücksichtslose Männer in schwarzen Automobilen, denen Arbeiterkolonnen mit Baggern und Kippern folgen werden. Höchste Zeit also, sich zu wehren.
Denn eigentlich will niemand weg. Nicht der Bürgermeister, der sich verzweifelt an den Gedanken klammert, seine ihm vor zwanzig Jahren fortgelaufene Frau fände gerade jetzt wieder nach Hause. Nicht die Zwillinge Jula und Jules, die alles gemeinsam tun und an ein Zeichen des Widerstands denken. Nicht der Schauspieler Robert, der beim bevorstehenden Jahrhundertfest das Proteststück zur Aufführung bringen will, für das er bereits seit Monaten probt. Und auch nicht Greta Mallnicht, die über 90-Jährige, die sich Gedanken darüber macht, wie sie am besten noch vor der Versiegelung der Gräber des Friedhofs zu ihrem Mann unter die Erde kommt.
Annika Scheffels neuer Roman Bevor alles verschwindet, ihr zweiter nach Ben (kookbooks 2010), ist ein Buch des Abschieds. Etwas geht unwiderruflich zu Ende und das, was kommt, ist erst erahnbar und macht Angst. Also hält man an dem, was ist, so lange fest, wie es nur irgend gehen will. Schmiedet Pläne, die mal verzweifelt, mal komisch wirken. Verbarrikadiert sich hinter dem Glauben an ein Wunder in letzter Sekunde und phantasiert sich hinein in eine Traumwelt, in der aus Kinderzeichnungen entsprungene blaue Füchse den Bewohnern zur Seite stehen.
Natürlich hat man am Ende keine Chance. Haus für Haus wird der kleine Ort niedergewalzt, bis nur noch das Dach der Bürgermeisterei Schutz bietet. Unter ihm versammelt sich schließlich ein Häuflein Aufrechter, um noch einmal an die lange Geschichte ihrer Gemeinde zurückzudenken, die bald darauf von den gestauten Wassern des Flüsschens Traufe für immer begraben sein wird.
Manchmal erinnern die Bewohner des malerischen Dorfs ein wenig an Schildbürger – längst steht nämlich die neue Siedlung am Hang über dem Tal und wartet mit einer perfekten Infrastruktur auf die Übersiedler –, dann wieder versucht man sich zu ermannen, als lebe man mitten in der Freien Republik Wendland und müsse sich mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln wehren gegen das, was da als leuchtende Zukunft verkauft wird. Doch selbst die, welche den heftigsten Protest auf ihre Fahnen geschrieben haben – die 18-jährige Jula Salamander nämlich und der Heimatdichter und -schauspieler Robert Schnee mit seinem immer länger werdenden Drama –, halten nicht durch. Während der Mime noch bei der Premiere seines Stücks die Segel streicht und einfach von der Bühne und aus dem Ort verschwindet, findet Jula in einem der gelbbehelmten Bauarbeiter Liebe und Perspektive. Ihr Zwillingsbruder Jules freilich führt die Protestaktion, die sich die Geschwister ausgedacht haben, auch ohne seine Schwester durch und wird dabei zu einem jener Opfer, wie man sie in den Fundamenten des Neuen häufig findet.
Ein bisschen Eichendorff, ein bisschen Magischer Realismus, Realitätssplitter und eine Menge Traumhaftes – Annika Scheffel hat einen Roman vorgelegt, wie es nicht viele gibt in der aktuellen deutschsprachigen Literatur. Mich hat er an den späten Siegfried Lenz – die Novelle Landesbühne (2009) etwa – und die Bücher von Brigitte Kronauer erinnert. Eine Geschichte wird da erzählt, die an Finanzkrise und Energiewende als den großen Problemen unserer Gegenwart nicht gänzlich vorübergeht, um sich kopfüber ins Poetisch- Weltabgewandte zu stürzen, die aber durchaus Gefallen findet an der märchenhaften Zwischenwelt, in die sie ihre skurrilen Figuren versetzt. Und so bleibt unter dem Strich alles wohl ein bisschen zu sehr in der Schwebe für jene, die in einem Roman nach klaren Botschaften suchen. Lesen aber tut sich die Sache ganz wunderbar – und dazu, dass man sie liest, wurde sie ja wohl auch geschrieben.
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