An dessen Ziel, in Istanbul, hat Irfan Kurudan einen lukrativen Job als Hochschullehrer. Der Professor besitzt Rang und Namen, hat sein Studium im Ausland absolviert, tritt in einer eigenen Fernsehsendung auf – und ist doch totunglücklich. Weder Reichtum noch Familie, auch nicht das Gefühl des Siegers, das er auskostet, wenn er sich von seinen zahlreichen Neidern angefeindet sieht, vermögen ihn von Schlaflosigkeit und permanenter Lebensangst zu befreien. So dass er schließlich ausbricht, alles hinter sich lässt und mit einem Boot aufs Meer hinausfährt, den verratenen Jugendträumen hinterher. Zülfü Livanelis (Jahrgang 1946) Roman Glückseligkeit aus dem Jahr 2002, der nun anlässlich der Frankfurter Buchmesse 2008 und ihres Gastlandes, der Türkei, auch den deutschen Leser in einer manchmal etwas holprig erscheinenden Übersetzung erreicht, lässt kein einziges Problem aus, mit dem sich die heutige Türkei konfrontiert sieht. Es geht um das Verhältnis zwischen Türken und Kurden. Christliche und muslimische Lebensweisen begegnen sich und stoßen einander ab. Zwischen Ost und West, Orient und Okzident, Tradition und Moderne, Mann und Frau, Stadt und Land, Arm und Reich werden Gräben sichtbar gemacht, in denen Einzelschicksale oft gar nicht anders denn tragisch enden können. All das an die Biografien dreier so unterschiedlicher Menschen wie Meryem, Cemal und Professsor Kurudan anzubinden, überfordert freilich die Möglichkeiten jeder einzelnen dieser Figuren. Und deshalb vermag der Roman auch nicht hundertprozentig plausibel zu machen, warum der Cousin das Leben seiner Verwandten letztendlich verschont und was den Professor dazu bringt, sich die beiden jungen Menschen als Gesellschaft auf sein Boot zu holen, um sich von ihnen kurz darauf im Streit wieder zu trennen. Vor allem die Gestalt des Intellektuellen in der Midlifecrisis – für Livaneli sicherlich deshalb nötig, weil er ihr am besten die eigenen Probleme aufbinden und mit ihr die Möglichkeit des Reflektierens der Widersprüche in den Roman einziehen lassen kann – offenbart dabei große Schwächen und wird umso unglaubhafter, je länger man sie auf ihrem Weg begleitet. Trotz seines allumfassenden Anspruchs, für den dreihundert Seiten und eine aus drei Perspektiven erzählte, spannende Odyssee durch ein zerrissenes Land einfach zu wenig sind, bietet Glückseligkeit unterm Strich ein gutes Beispiel für türkisches Erzählen heute. Livaneli, in dessen Person noch die klassische Personalunion zwischen Literat und Sänger funktioniert – mit Mikis Theodorakis gründete der gefeierte Komponist 1986 das Komitee für türkisch-griechische Freundschaft, seine Lieder zählen zum Repertoire von Joan Baez und anderen – ist ein Autor, der seine Stoffe darzubieten versteht. Mit Kritik hält er, der in den siebziger Jahren gezwungen war, aus politischen Gründen die Türkei zu verlassen, nicht zurück. Und er ist sich der großen Tradition farbenfrohen orientalischen Geschichtenerzählens mehr als bewusst. Sein Roman ist gespickt mit Träumen, Allegorien, Mythen und Märchen, sucht aber gleichzeitig auch die Verbindung zu modernen Erzählstrategien. Am berührendsten von allen Personen, die der Leser kennenlernt, ist zweifellos das Mädchen Meryem (benannt nach der Mutter Maria). Eingesperrt in die Traditionen seiner Heimat, lebt in ihm die Sehnsucht nach der Weite hinter den Hügeln. Doch als Meryem endlich sehen soll, welche Geheimnisse sich dort verbergen, ist damit auch ihr Todesurteil, von dem sie freilich nichts ahnt, verbunden. Die Reise nach Istanbul und alle Begegnungen, die sie dabei hat, zuletzt jene mit dem liberalen Professor, der sie in westliche Kleidung steckt und dazu ermutigt, ihr eigenes Leben zu leben, machen sie langsam selbstbewusst und beenden das Leiden an ihrer Weiblichkeit, mit dem sie aufgewachsen ist. Am Schluss hat sie die größte Entwicklung durchgemacht. Während die beiden männlichen Helden ratlos zurückbleiben, verlässt sie den Roman in der Gewissheit, dass Gott endlich begonnen hat, auch sie zu lieben.
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Dietmar Jacobsen
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