Nun also Der Schneeleopard. Auf den ersten Blick ein Roman, der ins Œuvre Aitmatows passt. Vom (deutschen) Titel her – sein letztes fiktionales Buch hieß bei uns Die Träume der Wölfin – wie auch sonst. Erneut geht es um Entscheidungen eines Einzelnen, durch die dieser nicht nur seinem eigenen, aus dem Ruder laufenden Leben eine Wendung ins Gattungsgeschichtliche verleiht, sondern gleichzeitig rettend in Vorgänge in Natur und Gesellschaft eingreift, die ein als kosmisch- Arsen Samantschin, Held des Romans, ist ein Außenseiter. Einer von jenen freien Journalisten, wie sie jetzt immer häufiger in den Blickwinkel der internationalen Öffentlichkeit geraten, mutig und der Wahrheit verpflichtet, kritisch den neuen Herrschern Russlands gegenüber und bedacht darauf, aufzuklären über die Hintergründe und dunklen Geheimnnisse von deren Macht. Anna Politkovskaja, am 7. Oktober 2006 in Moskau getötet, war eine von ihnen. Wie sie steht auch Aitmatows Protagonist nahezu allein einer sich etablierenden Gesellschaft gegenüber, in der die alten Werte nicht mehr gültig sind, Verkaufszahlen über Erfolge entscheiden und einfach alles für Geld zu haben ist. Es ist die „Bisnes-Epoche“, der sein ganzer Zorn gilt, und der wird noch verschärft dadurch, dass Samantschin seine große Liebe ausgerechnet an einen Neureichen, einen Oligarchen verliert, der ihn demütigen kann, ohne Bestrafung fürchten zu müssen. Entschlossen, sein Scheitern nicht hinzunehmen, sinnt er auf Rache und schreckt auch vor Tötungsfantasien nicht zurück. Doch zunächst hat er selbst ein „Bisnes“ zu erledigen. Für einen Onkel, der im Bergland des Tienschan Jagden für Vermögende organisiert, soll er als Dolmetscher tätig werden. Zwei arabische Prinzen sind auf dem Weg in die kirgisische Hochgebirgsregion. Ihr Auftritt bringt der armen Gegend Arbeit und Geld. Im Gegenzug begehren die gebildeten Potentaten eine der schönsten und seltensten Kostbarkeiten, die man am Himmelsgebirge zu bieten hat: Felle von Schneeleoparden, für deren Schutz Aitmatow im Rahmen eines internationalen Projekts selbst eintritt. Und damit nimmt die Katastrophe ihren Lauf. Tschingis Aitmatow hat im ersten Viertel seines neuen Romans schnell wieder beieinander, was seinen Büchern von jeher Gewicht verlieh. Einen Menschen in der Krise. Eine zu Ende gehende Liebesgeschichte und eine neue, die an deren Stelle tritt. Die exotisch- Dem Leoparden begegnet der Leser übrigens zuerst und in seiner Beschreibung entfaltet der Text auch seine größten Stärken. Dschaa- In anfangs enger Parallelführung erzählt der Roman von den letzten Tagen dieses Tiers und einem Menschen, dessen Geschick dem seinen nicht unähnlich ist. Ihr jeweiliger Weg führt beide auf einen gemeinsamen Endpunkt zu. Denn die Zukunft des einen wie des anderen ist unvorstellbar in einer Natur, die nicht mehr intakt ist. Instinktiv fühlt das der Schneeleopard. In eine befreiende, zeichensetzende Tat setzt der Mensch diese Erkenntnis um. Arsen Samantschin hinterlässt nicht nur die gelebte Weigerung, am Tanz um das goldene Kalb, in dem die Nachperestroika- Zum Ende hin freilich hat das Buch auch seine größten literarischen Schwächen. Dem Übersetzer, Friedrich Hitzer – unmittelbar nach Beendigung seiner Arbeit an diesem Roman verstarb er im Alter von 72 Jahren –, lag keine russische Ausgabe des Textes vor, sondern das Manuskript Aitmatows. Und dem, so hat man den Eindruck beim Lesen, fehlte es auf den letzten einhundert Seiten deutlich an der nötigen Konzentration und sprachlichen Klarheit. Unfertige und holprige Sätze sind plötzlich die Regel. Die Figuren wirken nicht mehr lebendig und individuell, sondern sind nur noch Sprechorgane ihres Autors, dessen Verbitterung zu spüren ist und der selbst offensichtlich Schwierigkeiten hat, sich in seiner Gegenwart zurechtzufinden. Die Frage, ob ein „Zurück zum Sozialismus“ aus den Dilemmata des heutigen Lebens herauszuführen vermöchte, wird zwar klar verneint, aber die gebetsmühlenartige Verdammung der „Markwirtschaft“ – während der Lektüre ging mir auf, dass es tatsächlich kein unliterarischeres Wort gibt als diesen sperrigen Dreisilber – führt nicht zu neuen Ufern, sondern beharrt auf ziemlich alten Ressentiments.
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Dietmar Jacobsen
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