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Andreas Maier
Die Straße
„Leben, ohne ein Leben zu haben ...“
Andreas Maier legt mit Die Straße den dritten Band seines literarischen Lebensprojektes vor
Kritik |
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Andreas Maier
Die Straße
Roman
Berlin: Suhrkamp Verlag 2013
195 Seiten, 14,90 EUR
ISBN 978-3518-42395-0
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Seit 2010 dürfen die Leser von Andreas Maier an dessen Lebensprojekt mit dem Arbeitstitel „Ortsumgehung“ teilnehmen. Es begann mit dem Prolog über einen kauzigen Verwandten des Autors – Onkel J. (Suhrkamp 2010) –, wurde fortgeführt mit den Romanen Das Zimmer (Suhrkamp 2010) und Das Haus (Suhrkamp 2011), beide Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts spielend, und hat nun mit Die Straße die späten Siebziger erreicht und damit eine Zeit im Leben der introvertierten Hauptfigur, in der sich die Sexualität als eine zweite, dunkel- unbegriffene und von den Erwachsenen verdrängte Parallelwelt in ihr Denken mischt.
Offensichtlich ist es Maier schwerer gefallen, Form und Stil für diese Lebensepoche seines autobiografisch fundierten Helden zu finden, als das bei der Beschreibung des aufgrund einer frühen Hirnschädigung immer kindlich gebliebenen Onkels oder der schwierigen Kindergarten- und ersten Schulzeit des Kindes „Andi“ der Fall war. Gut zwei Jahre musste man deshalb auf diesen dritten von insgesamt elf geplanten Bänden warten, der inhaltlich kühner, literarisch aber kühler als seine beiden Vorgänger daherkommt. Seine fast essayistisch anmutende Sachlichkeit verdankt sich hauptsächlich wohl der Tatsache, dass sich der an seine Pubertät erinnernde Schriftsteller hier nicht an späteren Erzählungen von Eltern, Großeltern, Geschwistern und Bekannten orientieren konnte, sondern allein auf das lückenhafte eigene Gedächtnis angewiesen war.
Die sich an Lewis Carrolls Alice in Wonderland (1845) anlehnende Dreiteilung des Romans leuchtet ein, ist es doch tatsächlich der erinnernde Abstieg in ein dunkles Loch der eigenen Existenz – „Down the Rabbit-Hole“ ist der erste Buchteil überschrieben –, in eine märchenhaft-fantastische Unterwelt, in der nichts mehr den logischen Gesetzmäßigkeiten gehorcht, die die Normalität der „Anderen“ konstituieren, dem man als Leser hier folgt. Es ist die Welt der „Doktorspiele“, der „schwarzen Männer“ und Exhibitionisten, die Maier im Gefolge seines Helden und bemüht, niemals dessen kindlichen Denkhorizont zu überschreiten, betritt. Und Andis Nichtverstehen dessen, was um und in ihm in diesem Lebensabschnitt vorzugehen beginnt, wird noch dadurch verschärft, dass das ihn mit einem ganz eigenen, neuen Wortschatz Ausrüstende in der Welt der Erwachsenen offensichtlich gar nicht existiert.
Letztere wird von Verdrängung und Puritanismus bestimmt. Ängstliche Kleinbürger bilden eine Art Bürgerwehr gegen einen in Friedberg gesichteten Entblößer, sind aber froh, dass der offensichtlich schon das Weite gesucht hat. Über Sexualität wird nicht gesprochen – als die Kinder ins „Bravo“-Alter kommen, überlässt man Dr. Sommer das lästige Geschäft der Aufklärung. Trotzdem wirft man verstohlene Blicke auf die in der Jugendzeitschrift abgebildeten Freizügigkeiten und kann die Augen – wie gelegentlich auch die Hände – nicht von den Freundinnen der erwachsen werdenden Töchter lassen. Legt sich in den engen Altstadtgassen des kleinen hessischen Orts auf die Lauer, wenn die Schule am Mittag auf die Straßen und Plätze entlässt, was das Wasser im Mund frustrierter alter Männer zusammenlaufen lässt.
Sicher bedient sich Andreas Maier bei der Beschreibung einer vollkommen durchsexualisierten Gesellschaft auch des einen oder anderen Klischees. Aber insgesamt ist die Vergegenwärtigung einer Atmosphäre, in der es einerseits keine Tabus mehr zu geben schien, während andererseits in den Familien nie über das Enttabuisierte gesprochen wurde, doch wohl stimmig und lässt verstehen, wie eine Gesellschaft beschaffen war, in der es zu den aus heutiger Sicht kaum mehr begreiflichen Übergriffen auf Kinder und Jugendliche in Internats- und Klosterschulen kommen konnte oder pädophiles Gedankengut sich in programmatische Schriften antibürgerlich auftretender Parteien wiederfand.
In Friedberg in der Wetterau jedenfalls, dem Zentrum von Maiers kleiner Welt, deren Grenzen sich von Band zu Band seines so einmaligen wie literarisch bedeutsamen Projektes ein wenig weiter hinausschieben, achtet man sehr darauf, dass die Kontakte der Töchter zu den hier stationierten GIs den Rahmen des Schicklichen nicht überschreiten. Wenn Andis ältere Schwester etwa vom „Amerikanervirus“ befallen wird und geschminkt und geföhnt jene Lokalitäten aufsucht, in denen man sich zu Tanz und Schwoof mit den Helden „made in USA“ traf, wartet draußen in seinem Wagen der Vater mit laufendem Motor und klopfendem Herzen auf eine Tochter, der ihre kleinbürgerliche Familie ein ganz anderes Schicksal zugedacht hat: „Sie sollte das Hausfrausein lernen, in Vorbereitung auf ihre künftige Rolle.“
Ganz und gar nicht ins Bild des heldenhaften Soldaten von jenseits des Atlantiks passt dann freilich die Figur des Austauschschülers John Boardman, der eines Tages in die Familie aufgenommen wird und ein gutes Jahr bleibt. Aus welchem Grund er seine vorherige Gastfamilie verlassen musste, wird von den Eltern des Ich-Erzählers ihren drei Kindern gegenüber nicht thematisiert. Dass mit dem unablässig Essen in sich hineinstopfenden, am liebsten nackt durchs Haus laufenden und kaum Kontakt zu gleichaltrigen Deutschen findenden „Riesenbaby“ aber etwas nicht stimmt, ein „Traurigkeitshintergrund“ sein Leben prägt, ist vom ersten Moment an spürbar.
Erst Jahre später wird sich der Erzähler im Zusammenhang mit einer anderen ihm passierenden Geschichte an jenen jungen Amerikaner erinnern und in ihm plötzlich das Opfer eines persönlichkeitserschütternden sexuellen Übergriffs sehen. Eine Erkenntnis, die ihm bewusst macht, dass auch im tiefsten Innern seiner selbst Dinge existieren, die die Zeit in – auch sprachliche – Schwärze gehüllt hat. Hinabzusteigen in dieses Dunkel, das wohl in jedem Menschen existiert, ist die Aufgabe, der sich Andreas Maier mit dem Roman Die Straße auf so radikale wie ehrliche Weise gestellt hat.
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