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Tilman Rammstedt
Morgen mehr

Zwischen Jutta's Bierparadies und den Champs-Élysées

Tilman Rammstedts Roman Morgen mehr betreibt eine Menge Aufwand, um zwei Menschen zusammenzubringen

  Kritik
  Tilman Rammstedt
Morgen mehr
Roman
Carl Hanser Verlag 2016
223 Seiten, 20,- €
ISBN 978-3-446-25096-3


Tilman Rammstedts Publikationsliste ist – sagen wir es freundlich – übersichtlich. Der 1975 in Bielefeld geborene und heute in Berlin lebende Autor wirft weiß Gott nicht jedes Jahr einen neuen Fünfhundertseiter auf den Markt. Seit seinem letzten Roman, Die Abenteuer meines ehemaligen Bankberaters, sind 4 Jahre vergangen. Seit seinem bisher erfolgreichsten, Der Kaiser von China (gleich zwei Großpreise beim Bachmann-Wettlesen 2008), schon acht. Es wurde also wieder einmal Zeit. Zumal der Mann Fans hat, die sich von jedem neuen Text aus seiner Feder ein Wunderwerk der Fantasie erwarten. Die ersten Reaktionen der deutschen Feuilletonkritik fielen diesmal – vielleicht gerade wegen dieser im Grunde etwas überzogenen Erwartungshaltung – nicht ganz so euphorisch aus. Wir haben uns davon nicht abschrecken lassen, das Buch gelesen und uns drei Stunden königlich amüsiert.
  Mit dem inzwischen legendären Roman von einer China-Reise, die nur im Kopf stattfindet und deshalb umso schöner und abenteuerlicher ausfällt, verbindet Morgen mehr seine Entstehungsgeschichte. Denn es hat erneut gedauert, bis Rammstedt und sein Verlag das, was in einer ersten Fassung kleinportioniert als Fortsetzungsroman im Internet erschienen war (von Januar bis April 2016), in einer überarbeiteten Druckfassung zwischen zwei Buchdeckel pressten. Fast ein halbes Jahr verging zwischen dem Schreibexperiment für Netzaffine und dessen Präsentation für traditionelle Leser. Wem noch dazu die Fortsetzungs-Vorgeschichte – die vielleicht auch zum Teil die Geschichte der geschickten Disziplinierung eines etwas zum Schlendrian neigenden Autors war – verborgen blieb, der hatte zusätzlich Schwierigkeiten, den Romantitel in Beziehung zu bringen zu dem, was ihm da erzählt wurde. Ein „Morgen“ nämlich gibt es nicht in Rammstedts Geschichte, die sich an einem einzigen Tag des Jahres 1972 abspielt – auch wenn dieser Tag ein ungewöhnlich langer ist. Aber der Reihe nach!
  Eine der Kernfragen an erzählende Literatur lautet ja „Wer spricht?“ In Morgen mehr ist die schnell beantwortet: ein Ich. Fragt man nach dessen Identität, wird es freilich kompliziert. Denn Rammstedts Ich-Erzähler besitzt gar keine. Anders gesagt: Er ist noch nicht einmal auf der Welt. Ja, schlimmer noch: Die Eltern dieser als Geist über den auktorialen Erzählwassern schwebenden Plaudertasche wissen am Morgen des Sommertages, an dem sie sich spätnachts zur Zeugung des neunmalklugen Erzählers begegnen werden, noch gar nicht, dass der sie in vorauseilendem Gehorsam dem Leser schon als „mein Vater“ und „meine Mutter“ präsentiert. Kennen sie sich doch noch nicht einmal, wenn der Roman beginnt, und sind auch nicht gerade in Begattungsstimmung, wenn sie zum ersten Mal ins Bild rücken. Er wurde nämlich soeben verlassen und ist dabei, der Liebe generell abzuschwören, während die zukünftige Mutter in Frankreich den Tod ihrer Schwester zu verarbeiten sucht.
  Aber die Zeit drängt. Denn kommen die beiden nicht zusammen, kann der Erzähler einpacken, da seine Geburt dann ins Wasser fiele. Also Beeilung und die Entfernung Vater in spé und Mutter in spé, die zunächst beträchtlich ist – sie ist gerade in Marseille einen gut aussehenden Franzosen losgeworden, bevor der sich zeugungstechnisch vordrängeln konnte, er steht am Main, hat die Füße allerdings in einem Eimer mit Zement und einen Möchtegern-Gangster mit finsteren Absichten am Hals –, so schnell wie möglich auf Null bringen. Und das macht der Roman dann auch. In kurzen Kapiteln mit barock-verspielten Überschriften braust er los und so schnell ist er nach 68 Abschnitten auf der zweihundertdreiundzwanzigsten und letzten Seite angekommen, dass ihm das Bremsen kaum gelingt und er ein fünfseitiges „Schaltkapitel“ gegen jede herkömmliche Ordnung noch hinter dem Impressum auf extra eingefärbtem Papier platziert.
  Dafür, dass sich weder der zukünftige Vater noch die zukünftige Mutter noch der gegenwärtige Leser langweilen auf dieser von zwei entgegengesetzten Seiten auf ein Ziel, den Pariser Eiffelturm, zuschießenden Geschichte einer Zeugung, sorgt der Einfallsreichtum, mit dem Tilman Rammstedt auch in seinem neuen Roman nicht geizt. Da begegnen uns auf Seiten der Bösen neben dem gerne zu den ganz Großen der Frankfurter Unterwelt zählen wollenden Dimitri, der eigentlich Uwe heißt und im Grunde ein ziemlicher Angsthase ist, drei vertrottelte Gangsterbrüder und ihr Chef, der brutale Dr. Rolf. Letzterer muss erst ein Kind verlieren, damit den beiden Helden der Geschichte eines ins Körbchen fallen kann - die kryptische Aussage der beiden letzten Teilsätze wird man verstehen, wenn man das Buch zu Ende gelesen hat. Und das – Nicht auf der Strecke bleiben, auch wenn die Erzählluft an einer oder zwei Stellen mal etwas dünner wird! – sollte man unbedingt. Sonst nämlich verpasst man Desweiteren: ein Auto fahrendes Schaf, einen Koffer, in dem mal 100.000 Deutsche Mark waren, ein paar Autounfälle, herrlich skurrile Nebenfiguren und einen Hammer – ja, einen ordinären Hammer! –, der sich interviewen lässt.
  Ach, ja, und natürlich geht es um die Zeit. Die in diesem besonderen Jahr 1972 ihr übliches Quantum um eine ganze (Schalt-)Sekunde überzieht. Eine Sekunde, die in Tilman Rammstedts Roman gut genutzt wird. So dass es am Ende heißen kann: „Wir wissen noch nicht, was danach geschah, was alles geschehen würde. Wir können manches erahnen, vielleicht das meiste. Mit dem Rest müssen wir leben.“ So lange uns Tilman Rammstedt weiterhin regelmäßig alle paar Jahre mit einem kleinen Roman erfreut, sollte Letzteres kein großes Problem darstellen.
Dietmar Jacobsen   18.12.2016   

 

 
Dietmar Jacobsen