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Tamta Melaschwili
Abzählen

Drei Tage im Krieg

Mit Abzählen ist der georgischen Erzählerin Tamta Melaschwili ein eindrucksvolles Romandebüt gelungen

  Kritik
  Tamta Melaschwili
Abzählen
Roman
Zürich: Unionsverlag 2012
112 Seiten, 19,99 Euro
ISBN 978-3-293-00439-9


Drei Tage dehnen sich zur Unend­lichkeit – Mittwoch, Donnerstag, Freitag. Drei Tage im Krieg, die scheinbar immer wieder von Neuem beginnen. Erst ganz am Ende von Tamta Melaschwilis Roman­debüt Abzählen bricht der Samstag an. Aber er bringt nicht den er­sehnten Frieden, sondern die Trauer um ein Mädchen, das den Leser auf den vergan­genen 90 Seiten so mutig wie naiv, gewitzt und toll­kühn in ihre Welt hinein­gezogen hat.

Es ist die Welt des Kau­kasus­kon­flikts im August des Jahres 2008, einer der zahl­reichen ethnischen und terri­toria­len Aus­ein­ander­set­zungen nach dem Zer­fall der Sowjet­union. Ganze fünf Tage hat dieser Krieg gedauert, nach­dem russische Trup­pen in die Kämpfe zwischen georgi­schem Militär und süd­osseti­schen Mili­zen ein­griffen und die Georgier am 12. August 2008 zu einem Waffen­still­stand zwan­gen.Doch diese kurze Zeit hat aus­gereicht, großes Leid über eine Zivil­bevöl­ke­rung zu bringen, die sich plötz­lich zwischen den kämp­fenden Par­teien wieder­fand und nicht die gerings­te Chance besaß, dem ausge­bro­chenen Wahnsinn zu entkommen.

Die beiden 13-jährigen Mädchen Nimzo und Zknapi erleben diese Zeit in ihrem Dorf zusam­men mit Kindern, Frauen und Alten. Die Männer sind an der Front, die Felder in der Nähe vermint, Kampf­jets über­fliegen von Zeit zu Zeit die Gegend. Es herr­schen trüge­rische Ruhe und große Not. Denn es gibt nichts mehr von all dem, was in Friedens­zeiten selbst­ver­ständ­lich war. Zknapis Mutter hat keine Milch mehr für das Brüderchen. Als das Mädchen ihre Tage bekommt, müssen zer­ris­sene Gardinen die Monats­binden er­setzen. Die Alten warten auf Nachrichten von ihren Söhnen und hungern. Tod, Ver­zweiflung und Wahn­sinn sind an der Tages­ordnung.

Und doch gelingt es den beiden Heldinnen Melaschwilis, nach außen hin stark zu sein und ihre Mensch­lichkeit zu bewahren. Die körperlich reifere Nimzo setzt ihre Weib­lichkeit ein, wenn es um begehrte Güter geht, die nur mehr über Umwege zu haben sind. Zknapi gleicht diesen Vorteil mit Gewitzt­heit aus. Und beide verstehen sie keinen Spaß, wenn die im Dorf zurück­geblie­benen Jungen zu in der Nähe lie­genden Kriegstoten wie zu At­trak­tionen pilgern wollen oder deren brutaler Umgang mit Katzen­kindern darauf hinweist, dass die Menschen zu Opfern einer allge­meinen Verrohung werden könnten.

Abzählen, im Jahr 2011 mit dem geor­gischen Literatur­preis Saba für das beste Debüt ausge­zeichnet, ist bis kurz vor Schluss aus der Per­spektive der jungen Zknapi erzählt. Und deren genaues Hinschauen und Hinhören erzeugt einen Ton, der knapp ist und sich auf die wesent­lichen Mittei­lungen be­schränkt. Da wird nichts ausge­schmückt, nichts roman­ti­siert. Kurz, authentisch und präzise kommen die Sätze daher, werden die Dialoge auf­gebaut, mal in direkter, mal in indirekter Rede. Karg reiht sich Satz an Satz, eiskalt fällt das Licht in eine Welt, die von allem Glück, von aller Hoffnung verlassen scheint.

Georgische Interpreten haben darauf hingewiesen, dass sich Tamta Melaschwili weder eines speziellen Dialekts noch des so genannten „literarischen Georgisch“ bedient. Die verwendeten Familien­namen stammen aus unterschiedlichen Teilen des Landes, die Vor­namen wirken betont haupt­städtisch. Der konkrete Handlungs­ort des Textes bleibt ganz bewusst im geo­grafischen Dunkel, Abzählen spielt, wie auf der ersten Seite zu erfahren, in einer „Konflikt­zone“. Gerade dieser Kunstgriff gibt dem Roman seine Bedeu­tung über den Tag und jeden konkreten Anlass hinaus, macht ihn zu einem berüh­renden Buch über den Krieg aus der Sicht zweier Mädchen, die in dieser schwe­ren Zeit zu Frauen heran­reifen und von denen nur eine den Irrsinn überlebt.

Auf den letzten sieben Seiten wechselt der Roman Zeit- und Erzählebene. Aus der „Konflikt­zone“ ist eine „Grenz­zone“ geworden. Die An­wesen­heit von Militär wirkt frei­lich wenig beruhigend. Jederzeit, so hat man das Gefühl, könnten die töd­lichen Kämpfe wieder auf­flammen. Für ein paar Soldaten, die es mit einer ins Sperr­gebiet einge­drun­genen Frau zu tun bekommen, ist deren Erschei­nen nur ein unbe­deu­tender Zwischen­fall. Schnell macht man der Fremden klar, dass sie hier nichts zu suchen hat. Für Nimzo aller­dings, um die es sich dabei han­delt, ist es ein Besuch an jenem Ort, wo eine Mine ihre Freundin Zknapi tötete, als die gerade einen Karton mit gestoh­lener Baby­nahrung nach Hause bringen wollte.
Dietmar Jacobsen   12.07.2012   

 

 
Dietmar Jacobsen