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Abasse Ndione
Die Piroge

Zehn Tage bis Santa Cruz

Abasse Ndiones Roman Die Piroge erzählt vom Schicksal jener vielen Afrikaner, die für das kalte Paradies Europa ihr Leben riskieren

  Kritik
  Abasse Ndione
Die Piroge
Roman
Aus dem Französischen von
Margret Millischer
Berlin: Transit Buchverlag 2014
91 Seiten, 14,80 €
ISBN 978-3-88747-306-8


Jedes Jahr machen sich Tausende junge Afri­kaner auf den Weg nach Europa. Auf immer gefährlicheren Routen und der Willkür skrupel­loser Schleppe­rbanden ausgesetzt, wagen sie ihr Leben, um der in ihren Heimatländern herrschenden Hoffnungslosigkeit zu entkommen. Hungersnöte, religiöse Konflikte, der Klima­wandel und die wirt­schaftliche Unterentwicklung auf dem schwarzen Kontinent sind allerdings nicht allein schuld daran, dass man lieber auf überladenen Booten in den Tod fährt als hilflos mit anzusehen, wie die eigene Familie verelendet. Auch die sich wagenburgartig gegen die „Flücht­lings­ströme“ ab­schottende Euro­päische Union hat ihre Aktien daran, dass es überhaupt erst zu den Wanderungs­bewe­gungen kommt. Statt nämlich mitzuhelfen bei der Bekämpfung der Ursachen der Migration, investiert man lieber in Grenz­befes­tigungen und Privat­armeen, um die unerwünschten „Eindringlinge“ fernzuhalten.

Abasse Ndiones im Original 2008 erschienener Roman Die Piroge nimmt seine Leser mit auf eine jener Über­fahrten, die nicht selten in Katastrophen und den massen­haften Tod von Menschen führen. In einem kleinen sene­galesischen Fischerdorf unweit der Hauptstadt Dakar machen sich 40 Bauern aus dem Landes­inneren und eine Handvoll Dorfbewohner auf, um ihr Glück in Europa zu suchen. Da man weiß, dass es immer schwie­riger geworden ist, das Ziel seiner Sehnsucht auf direktem Wege über das Mittel­meer an­zusteuern, hat man sich für den Umweg über die Kanarischen Inseln entschieden. Dort gibt es noch keine meterhohen Zäune vor dem rettenden Ufer – und erreicht man es, ist man auf spanischem Boden, also im gelobten Land.

Das Schiff, dem sich die Flüchtlinge für geschätzte zehn Tage anvertrauen, ist stabil gebaut. Sein Kapitän, Baye Laye, und dessen zweiter Steuer­mann, Kaaba, kennen sich aus mit den Tücken des Atlantiks. Alle, die mit dem Eintreffen der Flut an Bord gehen, müssen zwar bezahlen für die Über­fahrt – aber niemand hier denkt daran, sie zu übervorteilen und Profit aus ihrem Elend zu ziehen. Auf ihrer Fahrt begleiten die Männer und die eine Frau, die sich unter sie gewagt hat, die Gedanken, Wünsche und Beschwörungen der Zurück­blei­benden. Jedem fiel der Abschied von seiner Familie schwer. Nun sind sie auf unabsehbare Zeit ganz allein, denn mit ihren Papieren haben die Passagiere vor Antritt der Fahrt ins Ungewisse auch ihre Identität in Rauch und Flammen aufgehen lassen.

Doch nicht die Trauer über den Abschied ist es, die die Gespräche an Bord dominiert, sondern die Freude auf das Kommende: „Eine Welle der Euphorie, die schon an Hysterie grenzte, hatte das Boot erfasst. Alle waren außer sich vor Begeisterung und im Geist in Euro­pa angekommen. Glück­wünsche wurden ausge­tauscht, gewaltiges Gelächter brach aus, mit zum Himmel erhobenen Armen wurde Gott, der Allmächtige, geprie­sen und sein Prophet Mamadou, Friede und Heil sei mit ihm, der ihnen geholfen hatte, einen Wunsch zu erfüllen, den man für unerfüllbar gehalten hatte. Sie sahen sich schon in Europa ...“

Weder Bedauern noch schlechtes Gewissen vermögen die Aufbruchsstimmung zu trüben – denn die Ausfahrenden lassen ihre Angehörigen ja keineswegs im Stich, sondern sie sind die, die man auserwählt hat, weil ihre Gesundheit und Jugend die beste Gewähr dafür zu bieten schien, dass es auch den Daheim­gebliebenen bald besser gehen würde. Dafür hat man sie und niemand anderen ausgesucht. Dafür nehmen sie die schmerzliche Trennung von ihren Familien, Frauen und Kindern auf sich. Denn bald nach der Ankunft in Europa, werden sie beginnen, den Großteil des dort verdienten Geldes nach Hause zu schicken, wo es in den Bau von Schulen und Krankenstationen, Trink­wasser­brunnen und Telefon­anschlüs­sen investiert werden soll – bis sie eines hoffentlich nicht allzu fernenTages zurück­kehren, um die ihnen gebührende Ehre zu genießen.

Aber das Meer ist nur in den ersten sieben Tagen freundlich zu denen, die sich voller Hoffnung hinausgewagt haben. Nach einer Woche ziehen schwarze Wolken auf, ein Wind erhebt sich, die Piroge gerät in einen fürchterlichen Sturm und wird gar zum Spielball der Wellen, nachdem sie beide Motoren ver­loren hat. Mit einem Schlag ist es vorbei mit allen Träume­reien von einer besseren Zukunft, denen sich die Pas­sagiere, von denen viele zum erstenmal in ihrem Leben in einem Schiff sitzen, hingegeben hatten. Und als plötzlich die Trümmerteile anderer Boote, denen man unterwegs begegnet war, an den Bordwänden vorbeit­reiben, wird selbst dem Letzten klar, dass der Kampf ums Überleben noch lange nicht gewonnen ist.

Abasse Ndione, 1946 in einem senegale­sischen Dorf an der Atlantik­küste geboren, braucht nicht mehr als knappe 80 Seiten, um uns in eine Tragödie hinein­zuziehen, wie sie sich heutzutage immer wieder ereignet an Europas Gestaden. Um sich und ihre Familien aus dem nicht selbst verschuldeten Elend zu erlösen, riskieren Menschen ihr Leben auf dem Meer, bis sie, wenn es denn gut geht, dort stranden, wo man sie nicht willkommen heißt. Wer sich an die biblische Geschichte von Noah und seiner Arche erinnert, wenn er in diesem Buch hautnah miterlebt, mit welchen Träumen, Illusionen und Hof­fnungen verzweifelte Menschen in eine unge­wisse Zukunft aufbrechen, liegt nicht falsch. Und wenn am Ende des Romans ein spanisches Rot-Kreuz-Schiff die Überlebenden der zweiwöchigen Odyssee vor Teneriffa an Bord nimmt, scheint ja tatsächlich das Schlimmste überstanden und ein neuer Weg ins Paradies gefunden zu sein. Viele andere aber – das erfahren wir immer wieder aus den Nach­richten – kommen niemals an. Und so darf man Diones bewegen­den Roman wohl auch als Appell an uns Europäer lesen, mehr dafür zu tun, damit jene Verzweifelten in Zukunft gar nicht erst an Bord eines Bootes gehen müssen, sondern ein Auskommen für sich und die Ihren vor der eigenen Haustür finden.
Dietmar Jacobsen   05.12.2014    Druckansicht  Zur Druckansicht - Schwarzweiß-Ansicht

 

 
Dietmar Jacobsen