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Siegfried Lenz
Die Maske
„Das Schicksal ... begnügt sich damit, zuzuschlagen“
Fünf neue Erzählungen von Siegfried Lenz erkunden, wie viel Fantasie die Realität verträgt
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Siegfried Lenz
Die Maske
Erzählungen
Hoffmann und Campe Verlag 2011
123 Seiten, 17,99 Euro
ISBN 978-3-455-40098-4
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Der heute 85-jährige Siegfried Lenz hat sein umfangreiches Prosawerk einst mit Erzählungen begonnen. Texte wie Die Nacht im Hotel (1949), Mein verdrossenes Gesicht (1950) oder Der Läufer (1951) waren bereits Proben auf die Exempel seiner Romane von Es waren Habichte in der Luft (1951) über Deutschstunde (1968) und Heimatmuseum (1978) bis hin zu Fundbüro (2003). Und doch hat der Romancier, der das große, geschichtsträchtige Gesellschaftsbild so gut beherrscht wie kaum ein zweiter deutschsprachiger Schriftsteller unserer Zeit, nie aufgehört, auch kürzere Texte zu schreiben. Wer sich etwa den umfangreichen Sammelband Die Erzählungen aus dem Jahr 2006 vornimmt, staunt nicht nur über die Vielzahl literarischer Einfälle auf der einen und das Arsenal immer wiederkehrender Bilder und Motive auf der anderen Seite, sondern auch über die traumhafte Sicherheit, mit der Lenz sein poetisches Handwerkszeug beherrscht.
Dass aus dem angekündigten Roman Die Maske nun ein Erzählungsband geworden ist, sollte deshalb niemanden enttäuschen. Vielleicht ist es sogar ein Glücksfall, dass Kraft und Geduld für einen Vielhundertseiter nicht mehr reichten und stattdessen, gleich einem filigranen Rahmen um das Hauptwerk, ein formeller Bogen geschlagen wurde zu den erzählerischen Anfängen des Autors. Die fünf Texte jedenfalls, die Die Maske auf knapp 120 Seiten vereint, lassen kaum Schwächen erkennen. Mit ihren norddeutschen Szenerien, den bodenständigen Figuren und dem nicht nachlassenden Interesse des Autors an Schicksalen, in denen sich mehr spiegelt als Individualität, sind sie bester Lenz.
Zu Letzterem gehört natürlich die raue Natur des Meeres und der Menschen, die mit den Launen der See aufgewachsen sind. Die Titelgeschichte konfrontiert ihre Leser vom ersten Satz an mit diesen Gegebenheiten. Ein Sturm ist soeben abgeflaut und den Bewohnern einer kleinen Insel wird von den Naturgewalten ein Container mit chinesischen Tiermasken an die Küste geschwemmt. Gewohnt, dass Strandgut in den Besitz seines Finders übergeht, bemächtigt man sich der an das Hamburger Museum für Völkerkunde adressierten Ladung und erlebt in den nächsten Stunden Wundersames. Das eigene Gesicht versteckt hinter einer fremden Maske, will plötzlich gelingen, wozu man von Angesicht zu Angesicht nicht fähig war: Alte Feinde fallen sich in die Arme und eine Liebesgeschichte nimmt ihren Anfang. Die Masken verändern ihre Träger, bringen sie einander nahe - doch nur so lange, bis sie sich ihrer wieder entledigen müssen und ihre wahre Identität die Oberhand gewinnt.
Aber nicht nur hinter einer Maske kann ein Mensch verschwinden und plötzlich ein anderer werden, sondern auch hinter einer Geschichte. Wie jener Kapitän Karsten Klockner in der Erzählung Die Sitzverteilung. Fünf Jahre hat der den Holzschoner „Britta“ durch Nord- und Ostsee gesteuert - bis zu jenem verhängnisvollen Tag, an dem er das Schiff wider besseres Wissen direkt in ein Sturmgebiet hineinlaufen ließ. Weil er als Einziger bis zuletzt auf der Brücke ausharrte, soll er nun von seiner Reederei ausgezeichnet werden. Doch Klockner weiß um seine Schuld und die Erzählung enthüllt sie Seite für Seite, bis es ihrem Protagonisten nicht mehr möglich ist, die Ehrung anzunehmen.
Poetische Nachrichten aus einem anderen Leben bekommt der Ich-Erzähler in dem Text Der Entwurf zu hören. Direkt von der Kreuzung weg, auf der er mit seinem kleinen Fiat soeben einen Unfall hatte, wird er in ein Hospital am Hamburger Elbufer gebracht. Unversehens landet er dort in einem Zimmer, in dem schon ein offenbar bekannter Schriftsteller seiner Genesung entgegensieht. Als jener Besuch von seiner Frau bekommt und ihrem Wunsch, aus seinem Schreibheft vorzulesen, Folge leistet, wird Lenz' Erzähler unfreiwillig Zeuge einer rührenden Geschichte. Sie handelt von dem Sohn des Ehepaars, beschreibt episodisch dessen Heranwachsen zu einem tatkräftigen jungen Mann – abenteuerlustig, intelligent, mitfühlend und immer für andere da – und endet mit dessen tragischem Tod bei einer Schiffskollision auf dem Elbstrom. Aber Siegfried Lenz wäre nicht Siegfried Lenz, wenn er dieser Beschreibung eines viel zu früh zu Ende gegangenen Lebens, mit der sich zwei Menschen über den Tod ihres Kindes hinwegzutrösten versuchen, nicht noch eine überraschende Pointe aufsetzte. Sie hier zu verraten, würde das Lesevergnügen an diesem kleinen, schulbuchreifen Meisterwerk sicher um einiges schmälern. Für diejenigen, die es dennoch nicht erwarten können: Sie findet sich auf Seite 104.
Leben und Kunst, Fantasie und Realität, Erlebtes und Erfundenes – zwischen diesen Polen pendeln alle fünf Erzählungen des Bandes Die Maske. Sein Autor plädiert dafür, dass nichts davon das jeweils andere ausschließt. Denn was wäre denn ein Leben ohne Kunst, die triste Realität ohne die sie überhöhende Fantasie? Und mischt sich Erlebtes, wenn man es rekapituliert, nicht immer auch mit Erfundenem? Der Schriftsteller Fred Haller aus Der Entwurf weiß nur zu gut, was er bewirkt, wenn er seinem Sohn ein Leben erfindet, wie der es nie gehabt hat. Und die Rührung seiner Frau bestätigt ihn und seine Kunst. Doch ist er sich zugleich bewusst, wie vorläufig alles ist, was er zu Papier bringt: „Es ist noch nicht fertig, nur zur Sicherheit hingeschrieben, damit uns einiges nicht abhanden kommt; wir verlieren so viel, unversehens“, lauten seine zentralen Worte. Sie könnten auch ein Credo für den Schöpferwillen seines Erfinders sein. Und ein Versprechen, dass auch der noch lange nicht an sein Ende gekommen ist.
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