Nicolai Lilin
Sibirische Erziehung
Gerechtigkeit ist das falsche Konzept
Nicolai Lilins autobiografischer Bericht über einen sibirischen Kriminellen ist auch ein Stück Transformationsliteratur
Kritik
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Nicolai Lilin
Sibirische Erziehung
Roman
Suhrkamp Verlag 2010
453 Seiten, 14,90 Euro
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Von Anfang an nennt man den Jungen „Kolima“ – ein Spitz- oder Rufname, wie ihn jeder in seiner Umgebung hat. Nicolai gehört zu den so genannten „Urki“, einem mafiaähnlichen sibirischen Kriminellenclan, den weder die zaristische noch die spätere kommunistische Regierung unter Kontrolle zu bringen vermochte. Also erlitten seine Angehörigen das Schicksal zahlreicher anderer unbequemer Bevölkerungsgruppen im riesigen Sowjetreich und wurden Ende der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts an dessen Peripherie, nach Transnistrien, zwangsumgesiedelt. Ihr Ziel allerdings, die auf Gedeih und Verderb zusammenhaltende Gemeinschaft der unbequemen Sibirer durch deren Verfrachtung in einen anderen Teil des Landes zu zerstören, erreichten die Kreml-Herrscher nicht. Eher das Gegenteil trat ein – in Not und Bedrückung schloss man sich noch fester zusammen und lebte eisern nach den überkommenen Prinzipien.
Nicolai Lilins autobiografischer Bericht über seine Kindheit in Bender am Flusse Dnestrj, wo die Urki das Sagen in einem ganzen Stadtteil – der Unterstadt – hatten, ist hart, realistisch und spart kaum eine Brutalität aus. Großvater und Vater des Helden sind Kriminelle, die nach ihrem ganz eigenen Kodex leben. Dessen Verhaltensregeln geben auch dem Jungen von kleinauf seine Handlungsspielräume vor. Mit 6 Jahren bekommt er sein erstes Messer, die langersehnte „Pika“, gepflegt und verehrt wie ein religiöser Gegenstand, dessen Platz im Haus gleich neben der Ikone ist. Wenig später findet er sich schon inmitten von blutigen Kämpfen zwischen Kinder- und Jugendbanden, während ihm in hohem Ansehen stehende alte Männer, die sich aus dem Banditengewerbe zurückgezogen haben, die „sibirische Erziehung“ angedeihen lassen. Schließlich, im Alter von gerade einmal 13 Jahren, landet er zum ersten Mal im Jugendgefängnis und lernt dort das Überleben unter den unmenschlichsten Bedingungen.
Das alles wird dem Leser mitgeteilt ohne große Distanz. Ganz dicht an seiner Figur erzählt Nicolai Lilin. Er beschreibt diesen Jungen, der er selbst einst war, als überaus intelligent und redegewandt, der Literatur zugeneigt, aber auch schon zum Töten gezwungen. Es ist eine komplett andere Welt, in die man als Leser hier blickt. Waffen und Tätowierungen bestimmen das Denken der Urki. Alles Amerikanische ist verpönt. Materielle Dinge zur Schau zu stellen: fast ein Verbrechen. Mannigfache Rituale – von der Art, seinen Tee zuzubereiten bis hin zu dem strengen Gebot, mit Repräsentanten der Staatsmacht nur über Dritte zu sprechen – strukturieren jeden Tag des Lebens. Und je mehr Polizisten einer außer Gefecht gesetzt hat, umso legendärer wird sein Ruf, umso länger werden die Geschichten, die man sich an den langen Winterabenden über ihn erzählt.
Geboren 1980, erlebt die Hauptfigur des Romans das letzte Jahrzehnt der Sowjetunion und die Transformationsperiode, in der es endgültig zu Ende geht mit der Herrlichkeit all jener nahezu autonomen Verbrecherclans. Denn mit der die Gesellschaft nach 1990 schnell durchdringenden neuen Lebensart zerfallen die überkommenen Werte. Respekt vor allen Lebewesen – außer jenen, „die Geld und Macht in Händen hielten und die einfachen Leute ausbeuteten“ –, Demut gegenüber den christlich-religiösen Instanzen und das Ausüben von Gewalt nur bei Vorhandensein eines guten Grundes (all das also, wozu die jungen Urki in erster Linie angehalten wurden) erscheinen plötzlich als obsolet. Die „neue Zeit“ bringt nicht nur einen neuen Menschentyp, sondern auch einen neuen Verbrechertyp hervor. Und weil sich Menschen wie Nicolai dem „postsowjetischen Konsumismus der Russen“ konsequent verweigern, werden sie, deren Vergangenheit bei der Schutzmacht des bis heute international nicht anerkannten kleinen Landes zwischen Moldawien und der Ukraine schnell bekannt wird, im Tschetschenienkrieg verheizt: Kampfmaschinen, denen man bei der Eroberung von Grosny nicht einmal die kleinste Atempause gönnt.
Sibirische Erziehung ist kompositorisch alles andere als aus einem Guss. Gar zu häufig lässt sein Ich-Erzähler sich treiben, schweift ab, sobald sich die Gelegenheit dazu ergibt, und hat manchmal nicht wenig Mühe, zurückzufinden an seinen Ausgangspunkt. Über manche Dinge aus dem Leben des Protagonisten möchte der Leser gern mehr wissen, als ihm der Erzähler mitteilt. An anderen Stellen hinwiederum ist der Roman zu redundant. Alles in allem merkt man deutlich, dass hier ein Autor am Werk war, der sich Schreibdisziplin erst noch erarbeiten muss. Andererseits scheint sich aber auch das italienische Lektorat gescheut zu haben, straffend in den Text einzugreifen, wohl in der Furcht, damit seine Authentizität zu beschädigen. Denn die ist letztlich das große Plus eines Buches, das sich – auch dank der Fürsprache Roberto Savianos ( Gomorrha) – zumindest in Italien ganz gut verkauft zu haben scheint. Und ehe Lilin dort mit der Fortsetzung, die sich dann den Erlebnisssen seines Helden im Tschetschenienkrieg widmen wird, auf den Markt kommt, soll der erste Teil halt auch in anderen Ländern reüssieren.
Dass der Roman das Zeug zu einem Erfolg hat, ist unbestritten. Denn was in Filmen wie zum Beispiel David Cronenbergs Eastern promises (dt. Tödliche Versprechen) ohne eine Prise Romantik eben doch nicht auskommt, erhält bei Lilin konkret-realistische Konturen. Wir werden mitgenommen in eine so inzwischen nicht mehr existierende, archaischen Riten und Traditionen verschworene Gemeinschaft. Insofern ist Sibirische Erziehung auch ein Wenderoman. Freilich einer der etwas anderen Art.
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Dietmar Jacobsen
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