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Max Frisch

Antwort aus der Stille

Eine Erzählung aus den Bergen

Zwischen Tat und Tod

Max Frisch wollte von seiner zweiten Prosaarbeit später nichts mehr wissen – fast zwei Jahrzehnte nach dem Tod des Autors hat sein Verlag sie nun neu aufgelegt

Kritik
  Max Frisch
Antwort aus der Stille
Eine Erzählung aus den Bergen
Mit einem Nachwort von Peter von Matt
Frankfurt/ Main: Suhrkamp Verlag 2009
172 Seiten, 18,80 Euro


Es ist schon raffiniert, wie der junge Max Frisch – 1911 geboren, ist er zum Zeitpunkt der Niederschrift von Antwort aus der Stille 25 Jahre alt – seinen Helden Stück für Stück Kontur gewinnen lässt. Als zöge ein Bildhauer das Tuch, mit dem er die bereits fertige Figur vor den neugierigen Augen der Öffentlichkeit verhüllt hat, nun ganz langsam wieder von ihr herunter, braucht es 32 Seiten, ehe der Leser erfährt, dass der „Sonderling“ und „Wandrer“, mit dem er im Spätsommer (wahrscheinlich des Jahres 1936) in die Walliser Alpen unterwegs ist, mit Nachnamen Leuthold heißt. Wieder zwanzig Seiten später wird das Alter des Mannes enthüllt – er steht kurz vor seinem 30sten Geburtstag. Und erst ganz am Schluss – vier Seiten sind es von da an noch bis zu dem Wörtchen Ende – wird sein Vorname zum ersten und einzigen Male genannt: Balz.

Balz Leuthold also – junger Lehrer und Reserveoffizier, verlobt, gut situiert und trotzden unglücklich, weil er mitten in einer Lebenskrise sich befindet, nicht Aus noch Ein weiß und deshalb die Herausforderung der Berge sucht, sich aufmacht auf einen Gipfel, den vor ihm noch niemand bestiegen hat. Hier, hofft er, wird ihm Antwort auf die eine Frage, die seine Seele bedrängt: Wozu lebt man?

Frischs Text, erzählt aus den sich abwechselnden personalen Perspektiven seiner Hauptfiguren – neben Leuthold spielen noch die Verlobte Barbara sowie eine junge Dänin namens Irene, der der Einzelgänger zuerst in einem Berggasthof begegnet, wichtige Rollen –, wendet dieses existenzielle Problem hin und her. Dabei stellt er der bürgerlichen Karriere, die sein Protagonist gerade zu machen sich anschickt – von baldiger Heirat ist die Rede, Kinder kommen ins gedankliche Spiel, mit dem Beruf des Lehrers verfügt Leuthold zudem über einen sicheren Rückhalt –, einen Lebens­entwurf gegenüber, der trotzig auf der Besonder­heit jedes Einzelnen und dessen je indi­viduellen Sehn­süchten beharrt.

Allein die ihn umgebende Gesell­schaft – eingeengt fühlt er sich von ihr, in seinen Möglichkeiten beschnitten –, verweigert Frischs Helden das Recht, sich rücksichtslos zu verwirklichen. Und noch in den Bergen, vor der selbst gewählten Heraus­forderung stehend, stößt er rundum auf Unver­ständnis. Warum sollte einer wie er, dem eine glänzende Zukunft sicher ist, sein Leben riskieren um eines zeitlich begrenzten Ruhms willen, muss er sich fragen lassen. Und selbst die Person, mit der den wortkargen Außenseiter bald eine innige Beziehung verbinden wird, die einerseits kindlich verspielt wirkende, andererseits aber auch schon lebenserfahrene Irene, begreift nicht den Sinn eines Tuns, das sie ihm nicht abverlangt, um ihre Liebe zu gewinnen.

Tat oder Tod. Auf diese unserer Zeit suspekt gewordene Formel bringt es Leuthold. Alles andere wäre für ihn eine Kapitulation vor den eigenen Ansprüchen. Ein Sich-Bequemen ins ver­achtete Tag- und Jahrwerk all der Durch­schnitts­menschen, die schon einen Sinn darin erkennen, das Dasein, wie es ist, an die nächste Generation weiter­zureichen. Die sich ihre Sehn­süchte gar nicht mehr eingestehen, geschweige denn, dass sie ihnen bedingungs­los folgten. Die sich begnügen mit dem, was sie haben, und die Maske der Zufrie­denheit vornehmen, wenn sie jenes Nichts in klingende Worte fassen.

Und so bricht er schließlich auf in die Einsam­keit, um sich den eigenen Ansprüchen zu stellen, stürzt sich in ein Unternehmen, aus dem er nicht unversehrt an Geist und Körper zurückkommt nach Tagen. Er wird nicht darüber reden, was ihm konkret begegnet ist, aber die Kon­fron­tation mit der unwirtlichen Natur und dem in ihr lauern­den Tod wird den fortan Ver­krüppel­ten geläutert haben. Da ist am Ende der Erzählung nichts mehr von Über­hebung und Heraus­forderung des Schicksals, fast demütig dankbar erweist sich Leuthold für das geschenkte Leben, das er am Schluss der kleinen Erzählung – eindeutig ihrem schwächsten Teil – als einen Wert an sich begreift.

Wer sich auch nur ein wenig auskennt im Werk des im April 1991 im Alter von 80 Jahren ver­storbenen Schweizer Schrift­stellers von Weltrang, wird in Antwort aus der Stille viele Quellen aufspüren können, aus denen sich Themen und Motive der nach­folgenden Dramen und Prosa­arbeiten speisen. „Warum folgen wir unserer Sehnsucht nicht?“, heißt es an einer Schlüssel­stelle im Text. Es wird die Frage sein, die sich fast alle Helden Frischs stellen, schwankend zwischen Auf­bruch und Gewöhnung, Revol­tieren und Beharren, Wirklich­keit und Möglich­keit. Der Graf von Öderland wird sie auf seine Weise beantworten, Stiller sie bejahen, indem er sich selbst verneint, die Hauptfigur des späten Stücks Biografie: ein Spiel ein unverhofft ihr ermög­lichtes zweites Leben genauso versemmeln wie das erste. Wenn Leuthold und Irene im Berg­gast­hof Billard spielen, dann klingt dabei bereits das Tisch­tennis­spiel Walter Fabers mit seiner Tochter Elisabeth während der Überfahrt von Amerika nach Europa an – und all jene Szenen, in denen sich bei Frisch Machtkämpfe zwischen Männern und Frauen hinter an­schei­nend ganz harmlosen Spiel­szenen verstecken, dürfen evoziert werden. Der Regen als grun­dierendes Geräusch der Erzählung Der Mensch erscheint im Holozän fällt unablässig, während sich Leuthold auf seiner Mission zur Selbst­erforschung befindet. Und um seine innere Sicherheit, wie jene Figur aus der Erzählung Skizze eines Unfalls, die, ganz und gar durch den Partner verunsichert, gerade deshalb in die Kata­strophe schlittert, weil sie ein einziges Mal beweisen will, wie sicher sie ist – kämpft auch der Protagonist der Antwort aus der Stille.

Leser, die von Frisch nicht allzu viel wissen, sollten ihre Lektüre vielleicht mit dem informa­tiven Nachwort von Peter von Matt beginnen. Keine Angst: Der Schweizer Germanist zählt zu jenen wenigen Autoren aus der Zunft, die zu lesen schon immer Spaß gemacht hat, weil sie auf Fach­chinesisch weit­gehend verzichten und nicht nur belehren, sondern – ganz im klas­sischen Sinne – auch unterhalten wollen. Überzeugend, wie er den Text aus der Biografie des Autors herleitet und in größere Zusammen­hänge stellt. Und der häufig zu hörende Vorwurf, man habe es hier mit einer typischen Berg­schmonzette zu tun, der auch anlässlich der Neuausgabe hier und da zu vernehmen war? Von Matt kontert: „Das ist etwa so dümmlich, wie es die Behauptung wäre, Hemingways Der alte Mann und das Meer sei ein kubanischer Heimatroman.“

Was mich betrifft: Ich habe schon weit schlimmere Bücher gelesen. Jede Menge bessere allerdings auch. Und unter Letzte­ren finden sich nicht wenige vom Autor der Antwort aus der Stille. Fragt man mich gelegentlich nach dem sprich­wörtlichen litera­rischen Proviant für die einsame Insel – Ich bestehe immer darauf, mehrere Bücher mitnehmen zu dürfen, nur ein einziges auszuwählen brächte ich nicht übers Herz! –, dann ist Mein Name sei Gantenbein zuverlässig dabei. Vor­liegende kleine Erzählung aus dem Jahre 1937 wäre es nicht – man könnte sie ja auch gar nicht an die vielen Damen verleihen, die ich mir gerne mit mir zusammen auf dieser ab­ge­le­genen Insel vorstelle. Die würden sicher Zustände bekommen, wenn sie läsen, dass Frauen „nicht in Gedanken, sondern in Zuständen“ leben. Und das bierernst, vollkommen ironie­frei. Aber dankbar bin ich dem Suhrkamp-Verlag dennoch für dieses fast verschollene Buch, das sein Autor, nachdem der Ruhm über ihn gekommen war, konsequent ver­schwieg. Denn es ist mehr von den Gedanken und Konstel­lationen, Konflikten und Figuren, die Max Frisch ein Leben lang umtreiben sollten, in ihm enthalten, als man auf den ersten Blick wahrnimmt.
Dietmar Jacobsen   23.11.2009   
Dietmar Jacobsen