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Jakob Hein
Kaltes Wasser

Auf der Suche nach dem Westler in sich

In seinem neuen Roman Kaltes Wasser erzählt Jakob Hein die Geschichte eines ostdeutschen Felix Krull

  Kritik
  Jakob Hein
Kaltes Wasser
Roman
Berlin: Verlag Galiani 2016
236 Seiten, 18,99 €
ISBN 978-3-86971-125-6

Weitere Kritik von Dietmar Jacobsen
zu Jakob Hein
Wurst und Wahn  externer Link



Friedrich Bender geht noch zur Schule, als die Wende über Ostdeutschland hereinbricht. Doch im Gegensatz zu seinen Eltern – einem Professor für Marxismus-Leninismus und einer Kaderleiterin im VEB Berlin Chemie – paralysieren ihn die Ereignisse keineswegs. Im Gegenteil: Sie kommen seinem Talent entgegen, sich nicht von den Verhältnissen unterbuttern zu lassen, sondern sich die Dinge so zurechtzulegen, wie er sie gerne hätte. Darin ähnelt Heins Held im Übrigen dem Land in dem er – ausgerechnet auch noch am 7. Oktober 1971, dem „Republikgeburtstag“, zur Welt gekommen – aufgewachsen ist. Dessen „sozialistisches Geflunker“ im Weltmaßstab („Den Sozialismus in seinem Lauf, halten weder Ochs noch Esel auf.“) ahmt er sozusagen en miniature und auf die eigenen Bedürfnisse zugeschnitten nach.
  Als „Agitator“ seiner Schulklasse – verantwortlich für die politisch korrekte Information der Mitschüler über das Weltgeschehen und die führende Rolle der DDR in demselben – erfindet er die Realität lieber, als dass er die lähmend langweiligen Informationen aus dem NEUEN DEUTSCHLAND nachkaut. Dass ihn die Mädchen zunächst nicht in gewünschtem Maße wahrnehmen, stört wenig, denn er hat sich eine Ferienlagerromanze mit einem englischen Punkgirl ausgedacht, die allen anderen den Mund offen stehen lässt. Und als in den Wendemonaten 89/90 einiges drunter und drüber geht, verpflichtet er sich dazu, 25 Jahre als Offizier in der Nationalen Volksarmee der DDR zu dienen, nur um mit diesem Trick blitzschnell an die gewünschte Fahrerlaubnis zu kommen.
  Kaltes Wasser ist ein Schelmenroman mit einem Filou im Mittelpunkt, der just für jene Welt, die mit der deutschen Wiedervereinigung anbricht, gemacht zu sein scheint. Mit ein paar Währungsspekulationen im Vorfeld der Geldunion verschafft er sich ein ansehnliches Startkapital. Und dann ist er einfach nicht mehr zu halten. Ein ohne Gewerbeerlaubnis betriebenes Lokal in einem umgebauten Bus wird unter Friedrichs Leitung zum Szenetreff. Studienabschlüsse auf die normale Art zu erreichen, indem man über etliche Jahre hinweg öde Vorlesungen und Seminare besucht, kommt für ihn nicht in Frage. Und seine Mitarbeit in einer großen Versicherungsagentur weiß er nach kurzer Zeit dergestalt zu organisieren, dass in dem großen Leerlauf, als den er die Arbeitswelt erlebt, sein eigener kleiner Leerlauf fast als Hyperaktivität erscheinen muss. Als Friedrich schließlich gar noch unter dem Namen von Meyburg eine Partnervermittlungs-Agentur gründet, die sich auf ehrbare, wenn auch ledige Angehörige der besseren Gesellschaft spezialisiert, scheint seinem Aufstieg in die Welt der Schönen, Reichen und Einflussreichen nichts mehr im Wege zu stehen.
  Und doch geht es mit diesem Friedrich Bender genauso schnell wieder hinab wie hinauf. Sämtliche seiner neuen „Freunde“ fallen von ihm ab, als er plötzlich wie der Kaiser in Andersens Märchen ohne Kleider dasteht. Als gewiefter Ostler ist er den Westlern nämlich noch suspekter als einer der ihren, den man plötzlich als kleinen Gauner mit großen Ambitionen enttarnt. Und so muss er sich eines Tages fragen, ob das Glück und die berauschende Karriere, die er innerhalb weniger Jahre erlebte, ihn nicht in eine Sackgasse geführt haben, in der er sich nach und nach selbst abhanden kam.
  Als das Kindergartenkind Friedrich Bender seiner älteren Schwester, die in der Schule gerade schwimmen lernte und zu Hause voller Stolz von ihren Fortschritten erzählte, einmal entgegnete, er sei ein mindestens genauso guter Schwimmer wie sie, erboste dies das Mädchen und sie verlangte, dass er seine Schwimmkünste unverzüglich unter Beweis zu stellen habe. Worauf die ganze Familie an einem Sonntag in die Schwimmhalle ging, um sich von Friedrich die Örtlichkeit zeigen und anschließend überzeugen zu lassen, dass er sich tatsächlich schwimmend über Wasser halten konnte. Die Heldentat des Kindes, eine 25-Meter-Bahn bis an ihr Ende mehr zu paddeln als zu schwimmen, aber schließlich doch am Ziel anzukommen, ist jene Episode, die bestimmend für sein ganzes weiteres Leben wird. So wie er sich einst ohne Zögern ins kalte Wasser stürzte, nimmt er auch alle weiteren Herausforderungen des Daseins an. Bis er merkt, dass sich mit einer erflunkerten Biografie zwar richtig gut leben lässt, er aber nicht nur anderen damit etwas vormacht, sondern vor allem sich selbst.
  Nach den beiden weniger gelungenen „Sachbüchern“ Wurst und Wahn (2011) und Deutsche und Humor. Geschichte einer Feindschaft (2013, gemeinsam mit Jürgen Witte) ist Kaltes Wasser endlich wieder ein echter Jakob Hein: kurzweilig und voller Witz, Episode für Episode gut erfunden und voller Skurrilität in der Figurenzeichnung. Dazu präsentiert er mit Friedrich Bender einen Helden, der sozusagen das Gegenstück zu jenem Herrn Jensen darstellt, der genau ein Jahrzehnt früher in Heins bis dato bestem Roman Herr Jensen steigt aus (2006) das vorlebte, was man inzwischen „Entschleunigung“ nennt. Bender hingegen legt nach der Wende den Turbo ein, bis es ihn schließlich aus der Kurve trägt. Allein er bleibt nicht liegen, sondern sucht einen Neuanfang, indem er sich praktisch zurück zu den Quellen seiner Existenz begibt. Als Bademeister in Stockholm lehrt er Kinder den Sprung ins kalte Wasser und den Glauben daran, dass man sein Leben bewältigen kann, wenn man es nur will.
Dietmar Jacobsen   13.03.2016    Druckansicht  Zur Druckansicht - Schwarzweiß-Ansicht

 

 
Dietmar Jacobsen