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Max Frisch
Aus dem Berliner Journal
Keine Indiskretion, nirgends
Nachdem es 20 Jahre lang gesperrt war, ist das Berliner Journal von Max Frisch jetzt erstmals auszugsweise zugänglich
Kritik |
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Max Frisch
Aus dem Berliner Journal
Herausgegeben von Thomas Strässle unter Mitarbeit von Margit Unser
Berlin: Suhrkamp Verlag 2014
235 Seiten, 20,- €
ISBN 978-3-518-42352-3
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Dass das Tagebuchschreiben zu den bevorzugten Ausdrucksformen von Max Frisch (1911–1990) gehörte, weiß man. Und herumgesprochen dürfte sich inzwischen auch haben, dass man, schlägt man eines seiner Tagebücher auf, nicht erwarten darf, auf eine Sammlung von Notizen zu stoßen, in und mit denen der Schriftsteller die alltäglichen Wechselfälle seines Lebens festhielt. Die notierte der Schweizer Autor von Weltrang nämlich woanders hin. Seine Tagebücher hingegen dienten ihm hauptsächlich als Ideenhalden. Hier wurde aufgetürmt, was sich später noch zu eigenständigen Werken auswachsen sollte – vermischt mit Kommentaren zum Zeit- und Weltgeschehen sowie Maximen und Reflexionen zur Befindlichkeit des Schreibers im Augenblick der Niederschrift.
Damit bilden diese Texte eine Werkkategorie sui generis. Mit den privaten Aufzeichnungen anderer Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts sind sie kaum zu vergleichen. Konzentrieren sich diese doch tatsächlich zumeist auf die Schilderung der äußeren Lebensumstände der betreffenden Person. Und selbst da, wo sie darüber hinausgehen – etwa in Martin Walsers Tagebuchprojekt Leben und Schreiben / Schreiben und Leben, von dem soeben Band 4 erschienen ist – beziehen sich die Notierungen doch hauptsächlich auf bereits Manifestes, während man von Max Frisch – der Veröffentlichungszeitpunkt spielt hier wohl auch eine große Rolle – mitgenommen wird in eine gedankliche Werkstatt, in der die Ideen für Werke, die erst später ausreifen sollten, geboren werden. Wer etwa das erste große Tagebuch des Schweizers im Jahr von dessen Erstveröffentlichung, 1950, las, bekam bereits zu diesem Zeitpunkt skizzenhaft geliefert, was erst im Laufe des folgenden Jahrzehnts zu Bühnenwerken und Romanen werden sollte.
Und doch sperren auch Frischs Tagebücher das Private nicht vollständig aus. Ist die Verbindung von Leben und Werk bei diesem Autor doch ohnehin eine engere, als das zum Beispiel bei seinem nicht minder berühmten Landsmann Friedrich Dürrenmatt der Fall war. Davon, dass er dabei wohl nicht immer ganz so feinsinnig mit Kollegen und Lebenspartnerinnen umgesprungen ist, zeugt zum Beispiel die Tatsache, dass die Aufzeichnungen seiner römischen Zeit mit Ingeborg Bachmann von dieser nach dem Ende der Beziehung kurzerhand vernichtet wurden. Ein Umstand, der auch in Bezug auf das Berlin- Journal die Gerüchteküche anheizte. Denn warum wohl sollte ein Schriftsteller ein Werk erst 20 Jahre nach dem eigenen Tod in die Öffentlichkeit entlassen, wenn es darin nicht von pikanten privaten Details wimmeln würde?
Nun aber ist es da und kann gelesen werden. Aber was heißt „es“? Im Auftrag des Stiftungsrats der Max-Frisch-Stiftung hat der Germanist Thomas Strässle eine Auswahl getroffen. Sie umfasst Texte aus den Jahren 1973 und 1974. Die publizierten 170 Seiten stellen also bei Weitem nicht alles dar, was Frisch am 31.3.1980 in eine Archivschachtel gepackt hatte, um diese ein halbes Jahr später mit dem handschriftlichen Vermerk zu versehen: „BERLIN-JOURNAL / 1973–1980 / SPERRFRIST: ZWANZIG JAHRE“. Von den fünf Ringbüchern im A5-Format hat sich der Herausgeber allein bei den beiden ersten bedient. Sie waren wohl auch von ihrer Form her am besten edierbar – handelt es sich bei ihnen doch um mit Maschine getippte Reinschriften. Ab Heft 3 wird das Konvolut dann materialmäßig disparater, hand- und maschinenschriftliche Notizen wechseln sich ab, Briefkopien und Umschläge mit eingelegten, ungeordneten Notizen erschweren die Arbeit für eine ordnende Hand zusätzlich.
Doch selbst das, was uns alles in allem jetzt vorliegt, hat noch Kürzungen aus „persönlichkeitsrechtlichen Gründen“ hinnehmen müssen. So dass der Leser nun sicher sein kann, vor jedem Einblick in private Affären, Skandälchen und Aufregungen jeglicher Art, durch deren Publikation sich noch lebende Personen verletzt fühlen könnten, geschützt zu sein – ob ihm das nun gefällt oder nicht. Aber auch wenn sich Indiskretionen in dieser vorläufigen – und hoffentlich nicht letzten – Publikation des Berliner Journals nicht wiederfinden – lesenswert ist es trotzdem. Und das aus mehreren Gründen.
Zum einen muss es für Frisch eine Zeitlang selbst den Wert eines Werks gehabt haben, das sich den beiden großen Tagebüchern –Tagebuch 1946 – 1949 (1950) und Tagebuch 1966 bis 1971 (1972) – einst zugesellen sollte. Diesen Charakter verlor es allerdings im Laufe des Jahres 1974. An seine Stelle rückten andere Projekte wie die Erzählung Montauk (1975) oder das große Alterswerk Der Mensch erscheint im Holozän (1979). Spuren beider Texte finden sich für den aufmerksamen Leser bereits in den Aufzeichnungen des Journals.
Des Weiteren präsentieren sich auch Frischs Notizen aus der Berliner Zeit in jener typischen Mischung, die für die beiden großen Vorgänger charakteristisch ist. Zwar ist der Anteil von – eventuell für eine spätere Ausarbeitung gedachten – Erzählskizzen eindeutig rückläufig, dafür dominieren andere Themenkomplexe wie das alltägliche Sicheinleben in die Berliner Umgebung, Porträts alter und neuer Bekannter sowie die – für einen Rezensenten, der bis 1989, was seine Frisch-Lektüre betraf, auf die „Lizenzausgaben“ des Berliner Verlages Volk und Welt angewiesen war, besonders aufschlussreichen – Besuchsprotokolle im Ostteil der Stadt und auf der Leipziger Buchmesse, wo Frisch amüsiert verzeichnet, dass die Suhrkamp-Ausgabe seines Tagebuchs 1966–1971 „schon in den ersten Stunden von den Messe-Ständen geklaut“ wurde.
Überhaupt kann, wer das Berliner Journal liest, den Eindruck gewinnen, dass Max Frisch sich mehr für die Welt jenseits der Zonengrenze interessierte als für seine alltägliche Umgebung im Westberliner Stadtteil Friedenau. Kaum ist der Fernseher aufgestellt, wird schon eine Diskussion im DDR-Fernsehen „über die wissenschaftliche Gültigkeit des Kommunistischen Manifestes“ verfolgt. Und während bei einem Zusammensein mit Günter Grass die „Nierchen“ zum Abendessen im Mittelpunkt der kurzen Notiz stehen, geht es bei den vielen Besuchen bei Kollegen und Kolleginnen im Ostteil der Stadt um Essentielleres.
Ob Jurek Becker („sehr hilfsbereit, das Menschliche hat Vorrang“), Günter Kunert („ein unabhängiger Kopf, einer mit grossen Augen und mit der Sensibilität eines Poeten“), Ulrich Plenzdorf („ein wortkarger, sehr schüchterner Mann“), Wolf Biermann („seine Person und sein Talent sind eins“) oder Christa Wolf („nichts Kriecherisches, aber etwas Besonnenes, eine Haltung, die man aus pfiffigen Vorworten aus der Feudalzeit kennt“) – stets hat der Diarist ein Ohr für die Besonderheit der Situation von Schriftstellern, bei denen Denken und Veröffentlichen auseinanderfallen. Und er erkennt auf Anhieb, welch große Rolle die Literatur in einem Land spielt, dessen offiziellen Verlautbarungen in den SED-Gazetten niemand zu glauben scheint: „Ich bin in der Tat [...] fast erregt bei der Vorstellung, dass Texte ernstgenommen werden.“
Typisch Frisch sind auch die Passagen genauester, oft das Quälerische streifender Selbstbeobachtung. Etwa jene Szene vor dem Spiegel in einem Bekleidungsgeschäft, in der er sich seiner „groteske[n] Unzumutbarkeit“ für die Partnerin bewusst wird: „Dieser verfettete Alte, der ich bin!“ Oder die zunehmende Unzufriedenheit mit dem eigenen Schreiben: „Es gelingt mir fast gar nichts [...] Meistens brauche ich es nicht einmal wiederzulesen, um zu wissen, dass alles unbrauchbar ist [...] Übrigens kein konfuses Gestammel; es ist nur flach, sehr flach.“ Denkt er freilich genauer über diese schöpferische Malaise nach, wird ihm auch deren Kehrseite bewusst und damit ein stilistischer Zug, der für sein gesamtes Alterswerk Gültigkeit besitzt: „Nachlassen der Erfindungskraft, aber gleichzeitig kommt etwas hinzu, was nicht ohne weiteres eine Folge des Nachlassens ist: ein geschichtliches Interesse an der eigenen Biographie und an der Biographie anderer, [...], ein Interesse an der Faktizität, die ich bisher nur als Material missbraucht habe [...]“
Die Idee, die Berliner Aufzeichnungen der 70er Jahre nicht unter dem Titel „Tagebuch“ zu versammeln, sondern sie als „Journal“ zu etikettieren, dürfte übrigens von Frischs Brecht-Lektüre inspiriert sein. Das berühmte Arbeitsjournal des Augsburgers war anlässlich von dessen 75. Geburtstag posthum just in dem Jahr erschienen, in dem Frisch nach Westberlin zog. Er hat es nicht nur gelesen, wie einige Passagen im vorliegenden Text zeigen, sondern daraus auch „Massstäbe für eine schriftstellerische Existenz“ abgeleitet, wohl etwas, was ihm in diesen Jahren verloren zu gehen schien. Einen dieser Massstäbe formuliert er gar so, dass er als Motto und Leitgedanke über seinem ganzen Werk stehen könnte: „Ich schreibe, um zu arbeiten. Ich arbeite, um zuhause zu sein.“
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