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Serhij Zhadan
Mesopotamien
Niemand hat die Absicht, sich zu ergeben
In 9 Erzählungen und einem 30-teiligen Gedichtzyklus nähert sich Serhij Zhadans neues Buch Mesopotamien auf poetische Weise der ostukrainischen Stadt Charkiw
Kritik |
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Schon die Form, die der in Charkiw lebende 41-jährige ukrainische Schriftsteller Serhij Zhadan für sein neues Buch, Mesopotamien, gewählt hat, ist ungewöhnlich. In neun Erzählungen – alle tragen den Vornamen ihrer jeweiligen Hauptfigur im Titel –, locker miteinander verbunden durch das in ihnen auftretende Personal und den Handlungsort, Zhadans ostukrainische Heimatstadt, und 30 unter der Überschrift „Erläuterungen und Verallgemeinerungen“ subsummierten Gedichten versucht der Autor ein poetisches Porträt der zweitgrößten Stadt der Ukraine. Gelegen an zwei Flüssen – daher der Buchtitel „Mesopotamien“ – überschneiden sich hier nicht nur die menschlichen Schicksale der kleinen Helden, von denen uns bereits andere Bücher des Autors voller Witz und Phantasie erzählten, sondern auch Gestern und Heute, Geschichte und Gegenwart, Zuversicht und Verzweiflung, Liebe und Hass.
Zhadan nimmt seine Leser mit auf die Straßen und Gassen der Stadt, öffnet ihnen die Türen zu baufälligen Häusern, leeren Fabrikgebäuden und stillen, mit Aprikosenbäumen bepflanzten Höfen. Er macht uns mit Helden bekannt, die es alles andere als leicht haben in ihrem Leben. Boxer und Kleinkriminelle sind darunter, Studenten und Prostituierte, in den Tag hineinlebende Bohemiens, Dichter und Geschäftsleute voller verrückter Ideen. Und allen ergeht es wie dem gerade in die Stadt Einzug haltenden Romeo. Sie fühlen sich angenommen und aufgehoben, getragen und in ihren Plänen gefördert von einem zauberhaften Ort, den man nur lieben kann: „Das ist gut, dachte ich, eine Stadt am Fluss ist geschützter und ruhiger, in so einer Stadt hält das Leben sich im Rahmen und folgt einer Ordnung. Später fand ich heraus, dass es noch einen zweiten Fluss gab. Dazwischen lag die Stadt auf Hügeln, wie auf einer Insel, und leuchtete mit ihren weißen und roten Häusern, die von warmem Maiengrün umschlossen waren. Hoppla, sagte ich, als ich meinen Fuß auf die Brücke setzte, hier komme ich.“
Aber die Stadt macht es den meisten Gestalten, die uns aus der Ich-Perspektive Einblicke in den Lauf ihrer Tage geben, auch nicht leicht. Man muss kämpfen, um in Charkiw zu überleben. Das Glück zwingen und bereit sein, auch Niederlagen hinzunehmen, aber nie aufzugeben. Romeo, der seinem Namen gerne alle Ehre machen würde, müht sich um die Liebe seiner Vermieterin, schafft es aber trotzdem nicht, bei ihr zu landen. Jura, den Geschäftsmann, führt die Flucht vor seinen Gläubigern auf die Tuberkulosestation des Krankenhauses, wo er sich paradoxerweise wohl und sicher fühlen darf. Und Sonja schläft am Tage ihrer Hochzeit mit einem Exfreund, was in eine Massenschlägerei ausartet. Eröffnet wird der Reigen all der Liebenden und Verzweifelten mit einer Totenwache für den Boxer Marat. Und in der neunten und abschließenden Erzählung feiert der an Kehlkopfkrebs erkrankte Luka seinen letzten Geburtstag unter Freunden.
Ganz genau sieht Serhij Zhadan seinen Figuren auf die Finger und Füße, verfolgt ihre Wege und ihr Tun. Dass er als Lyriker begann, merkt man an fast jedem Satz. Bildern, die sich einprägen, folgen halbseitenlange Aufzählungen von Gerüchen und Sinneseindrücken. Und immer wieder kippen seine kleinen Erzählungen um ins Wunderbare, Surreale. So zum Beispiel wenn bei der Totenfeier für den auf den Weg zum Tabakkiosk erschossenen Marat plötzlich die unwahrscheinlichsten Erinnerungen an diesen Mann aufblühen, ihm eine Vita angedichtet wird, die das harte Leben, welches er führte, plötzlich in ganz anderem Licht erstrahlen lässt.
Nicht ganz zu funktionieren scheint mir unterm Strich, was dem Autor bei der Konzeption seines Buches sicherlich überaus wichtig war: die Verschmelzung von Poesie und Prosa. Während die neun Erzählungen auf unauffällig-geschickte Weise miteinander verbunden wurden, Gegenwart einfangen, indem sie ganz genau benennen und noch den kleinsten, ephemersten Dingen im Kosmos der Stadt Charkiw ihren Platz im Text geben, die Stadt damit zur heimlichen Hauptfigur des ganzen Buches machend, bewegen sich etliche der Gedichte auf einem Abstraktionsniveau, welches das Herstellen von konkreten Verbindungen zum Prosateil zumindest erschwert.
Und die Politik? Serhij Zhadan, Lyriker, Romanautor, Journalist und Musiker / Rapper möchte sie am liebsten aus seinen Texten verbannen. Und doch werden, wie er in einem Interview betonte, seine Bücher immer wieder von der Realität seiner Heimat eingeholt. Deshalb findet, wer genau liest, auch in Mesopotamien Spuren der aktuellen ostukrainischen Wirklichkeit – etwa da, wo es am Ende der „Romeo“-Erzählung heißt: „Sie erzählte, wie das Wasser im Frühjahr die Fundamente der alten Sanatorien unterspülte, die Flüsse rot wurden und nach Medikamenten rochen [...] Außerdem sagte sie, dass auf der Straße wieder geschossen werde, dass der Krieg weitergehe und niemand die Absicht habe, sich zu ergeben.“
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