John Irving
Letzte Nacht in Twisted River
Die Welt ist ein gefährlicher Ort
John Irvings neuer Roman begleitet einen Vater und seinen Sohn auf ihrer lebenslangen Flucht
Kritik
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John Irving
Letzte Nacht in Twisted River
Roman
Zürich: Diogenes 2010
732 Seiten, 26,90 Euro
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Kann man eine erwachsene, nackte Frau, die – umwallt von einer bis zu den Hüften hinabreichenden schwarzen Haarflut – vorgebeugt auf einem Mann sitzt, von dem nur noch die Beine bis zum Knie unter ihrer gewaltigen Leibesfülle herausragen, mit einem Bären verwechseln? Bei John Irving ist das möglich. Allerdings müssen ein paar Bedingungen erfüllt sein, damit die Szene halbwegs glaubhaft wirkt. Dazu gehört, dass derjenige, vor dessen Augen sich das Ganze abspielt, gänzlich uneingeweiht sein muss in bestimmte Ausdrucksformen des Sexuellen in der Menschenwelt. Weiterhin sollten die Licht- und Sichtverhältnisse alles andere als erstklassig sein, was man erzählerisch am besten hinkriegt, wenn man die „Bärenattacke“ in der Nacht stattfinden lässt. Und wenn das Kind, um das es sich bei unserem Beobachter handelt, sich im Angesicht des vermeintlichen tierischen Angriffs auf seinen Vater noch dazu den Schlaf aus den Augen reibt, weil das Grunzen und Stöhnen der „Bestie“ es eben erst munter und neugierig gemacht hat, so trägt auch diese Tatsache dazu bei, dass der Leser nicht schon am Anfang des neuen Romans des US-amerikanischen Bestsellerautors das Handtuch wirft.
Außerdem: Von John Irving erwartet man ja gar nichts anderes. Zwar fangen nicht alle seine Romane so skurril an wie dieser, aber mit verrückten Gestalten, abstrusen Plots und junonischen Frauen wurde in ihnen noch nie gespart. Schon gar nicht mit Bären, die bereits im ersten seiner – nun mit Letzte Nacht in Twisted River das Dutzend voll machenden – Romane eine tragende Rolle spielten und sich seither zum Totemtier des Irvingschen Prosakosmos auswuchsen. Und auch dem 12-jährigen Danny Baciagalupo wurde von seinem ihn allein erziehenden Vater ein gewaltiger Bär aufgebunden, indem der seinem Sohn nämlich immer wieder erzählte, er habe vor Jahren mittels einer gusseisernen Bratpfanne einen angriffslustigen Schwarzbären aus seinem Haus vertrieben. Da nimmt es dann wirklich nicht Wunder, dass das Kind, mitten in der Nacht mit einer haarigen Bestie konfrontiert, die sich schmatzend und schlürfend über seinen Erzeuger beugt, just diese seltsame Waffe nimmt und sie dem Angreifer in bester Familientradition über den Scheitel zieht.
Letzte Nacht in Twisted River erzählt die Geschichte der Baciagalupos. Wir erfahren von Dominic, dem italoamerikanischen Koch, seinem Sohn Danny, dessen kindliche Verwechslung einer liebestollen Indianerin mit einem mörderischen Bären zum Exodus der Baciagalupos aus einem Holzfällerlager im nördlichen New Hampshire führt, und schließlich von Joe, Dannys Sohn, der als Student Opfer eines tragischen Unfalls wird. Über die Biografien dieser drei Männer, die, jeder für sich, eine große Anziehungskraft auf Frauen besitzen, ohne dass sie je eine für immer an sich zu binden vermöchten, gerät ein historischer Zeitraum von knapp fünf Jahrzehnten in den Blick. Liegt der Beginn der Handlung am Anfang der 50er Jahre, nehmen die folgenden Teile, die Dominic und Danny auf ihrer lebenslangen Flucht vor der Rache des brutal-verschlagenen Geliebten der von Danny getöteten Indianerin sehen, schlaglichtartig die späten 60er sowie die 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts in Augenschein. Über die Ereignísse vom 11. September 2001 – Irvings Figuren, die den Angriff auf die Zwillingstürme des World Trade Centers nicht anders als wir über die Medien verfolgen, begreifen ihn als den Anfang vom Ende einer Welt, die sich anscheinend überlebt hat –, landet man schließlich in unseren Tagen.
Die heimliche Hauptfigur des Romans ist für mich freilich niemand aus dem Baciagalupo-Clan, sondern der Holzfäller und Flößer Ketchum. Von Beginn an ist sein Schicksal mit dem von Dominic, Danny und Joe aufs Engste verbunden. Und bevor der Koch – samt seinem Sohn – auf dem Radar des Romans erscheint, muss der Leser bereits eine jener typischen Irvingschen Urszenen verdauen, die die weitere Richtung ganzer Leben zu bestimmen vermögen. Hier ist es der tragische Tod eines jungen Hilfsarbeiters, der zwischen die auf dem Fluss treibenden Stämme gerät und ertrinkt, ehe Ketchum ihm zu helfen vermag. Es ist nicht der erste Unfalltod, an dem sich der zu Beginn der Handlung 37-Jährige insgeheim die Schuld gibt. Und nach der nächtlichen Flucht von Dominic und Danny aus dem Lager wird der raue Bursche alles tun, um die beiden fortan vor dem mörderischen Zorn ihres Verfolgers zu schützen, damit er sich nicht die Verantwortung für weiteres Unglück zuschreiben muss. Dass ihm das nicht ganz gelingt, ist die Tragik dieses schlichten Mannes, eines der schönsten Helden, die John Irving je geschaffen hat.
Es geht in Letzte Nacht in Twisted River um Freundschaft und Liebe und darum, dass die Welt ein Ort voller Fallen ist, in die der Mensch nur allzu gerne tappt. Es geht um das Verhältnis zwischen Vergangenheit und Gegenwart und um die Erkenntnis, dass Zukunft, die aus einem vollständigen Bruch mit dem Heute erwächst und Traditionen wie Kontinuitäten missachtet, kaum taugt. Es geht um den Menschen und seine Schutzbedürftigkeit – manchmal sogar vor sich selbst. Und es geht um die Kraft, auch nach Niederlagen nicht aufzugeben, sondern einen neuen Anfang zu suchen.
Irvings zwölftes Buch ist sicher nicht sein allerbestes. Das sollte die vielen Fans des Autors aber nicht davon abhalten, es wie seine elf Vorgänger atemlos zu verschlingen. Allein Kenner der Romanwelt des Amerikaners dürften in Letzte Nacht in Twisted River eine Art summa seines ganzen bisherigen Werks entdecken. Sämtliche Themen und Motive, die Irvings frühere Texte anklingen ließen, alle Obsessionen, die deren Helden umtrieben, tauchen hier wieder auf. Bären, Hunde, Wölfe – der Name „Baciagalupo“ geht auf die sizilianische Herkunft der Familie zurück, ursprünglich hieß man Baciodalupo, also: Wolfskuss – schlüpfen in symbolische Rollen. Danny läuft, sein Sohn Joe ringt und fährt Ski. Konsequent wachsen alle Söhne mit nur einem Elternteil, diesmal dem Vater, auf, wobei der Koch Dominic durch seine Profession noch am besten die Leerstelle der sorgenden Mutter zu überspielen vermag und nicht zuletzt Ketchums Beschützerinstinkt durchaus etwas „Mütterliches“ eignet. Verlustängste bestimmen das Verhältnis zwischen den Protagonisten. Unfälle reißen einander nahestehende Protagonisten auseinander. Frauen fallen vom Himmel – wunderbar die Szene, in der eine nackte Fallschirmspringerin in Dannys und Joes kleine Welt schwebt und fortan als „Lady Sky“ eine bis zum Romanschluss nicht schwächer werdende Verheißung darstellt – und Körperteile werden dafür bestraft, dass sie das, wozu sie eigentlich geschaffen sind, in einem entscheidenden Moment verweigern.
Eine tragende Rolle in Irvings zwölftem Roman spielt aber auch wieder das Schreiben – sein Warum, das Wie und Wozu. Denn Daniel Baciagalupo, der sich als Autor Danny Angel nennt, bis er den schrecklichen Verfolger der Familie, Constable Carl, endlich los wird und seinen achten Roman unter seinem wirklichen Namen herausbringen kann, besitzt wie keine der anderen Schriftstellerfiguren in John Irvings Werk – der Roman Witwe für ein Jahr (1998) hat zum Beispiel eine ganze Autorenfamilie zu Helden, was es seinem Autor erlaubte, in einem einzigen Buch die Einfälle für gut ein Dutzend anderer gleich mitzuverarbeiten – autobiografische Züge. Wie sein Schöpfer, dessen literarischer Durchbruch erst mit seinem vierten Roman – Garp und wie er die Welt sah (1978) – kam, braucht auch Danny drei lediglich von einem kleinen Leserkreis und der Fachwelt geschätzte Anläufe, ehe er mit einem Schlag zum Bestsellerautor mit Übersetzungen in alle großen Weltsprachen wird. Lebens- und Schaffensstationen wie die Dozentenstelle am Iowa Writers Workshop haben Danny und Irving gemeinsam. Ebenso verhält es sich mit bekannten und geschätzten Autoren, die in beider Leben eine Rolle spielten und spielen und denen Letzte Nacht in Twisted River namentlich huldigt – dazu gehören Irvings Vorbild und Lehrmeister Kurt Vonnegut, Raymond Carver, John Cheever, Marvin Bell und Salman Rushdie. Und eine – heimliche – Hommage an den von Irving außerordentlich geschätzten Günter Grass darf man vielleicht auch darin sehen, dass wie in Grassens berühmtem Roman Der Butt (1977) das Kochen eine nicht unbedeutende Rolle spielt und Dominic Baciagalupos Odyssee durch Nordamerika auch eine durch amerikanische Restaurants jenseits von Burger und Whopper darstellt.
Nicht zuletzt bekommen wir über den Schriftsteller Danny und seine Art, die Welt zu begreifen und künstlerisch zu verarbeiten, einen authentischen Zugang zur Poetologie seines Erfinders. Das reicht bis zu dessen Eigenart, seine Romane praktisch immer vom Ende her zu konzipieren, das heißt mit dem letzten Satz zu beginnen und oft lange Wartezeiten in Kauf zu nehmen, die der Eingangssatz benötigt, um auf die Welt zu kommen. In Letzte Nacht in Twisted River geht es schließlich – nachdem Danny und die sagenhafte „Lady Sky“ nach fast vierhundert Romanseiten des Sich-gegenseitig-Suchens endlich zusammengekommen sind – genau um dieses Problem. Denn das Projekt eines achten Buches, das Danny seit Jahren mit sich herumträgt, darf erst als vollendet gelten, wenn der Baustein zur Verfügung steht, der alles auf ihm Wachsende sicher trägt.
Es ist der erste Satz des vorliegenden Romans, den Daniel Baciagalupo schließlich findet. Und damit schließt sich der Kreis und etwas Neues kann beginnen: das Abenteuer des Schreibens, das der Tragik des Erlebten im Nachhinein einen Sinn zu verleihen vermag und gleichzeitig den Punkt markiert, von dem aus weitergelebt werden kann. Oder um es mit John Irvings Helden selbst zu sagen: „O Gott – jetzt geht's wieder los – ich fange an!“
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Dietmar Jacobsen
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