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Burkhard Spinnen
Auswärtslesen

Vorsicht vorm Zentralabitur

Burkhard Spinnen reist in die pädagogische Provinz und versucht dort, das Spiel der Literatur gegen die Versachlicher des Schönen zu gewinnen

  Kritik
  Burkhard Spinnen
Auswärtslesen
Eine Litanei
St. Pölten-Salzburg: Residenz Verlag 2010
95 Seiten, 16,90


Wer als Autor in Literaturhäusern und Buchhandlungen liest, hat immer ein Heimspiel. Vor ihm sitzt ein sach­kundiges Publikum, das, wenn schon nicht sein aktuelles Buch, so wenigstens seinen Namen kennt. Die ihn eingeladen haben, mögen ihn in der Regel. Niemand setzt voraus, dass er mitreißend lesen kann. Kritik oder gar Affront hat er kaum zu erwarten. Und nach ein, zwei Stunden gibt's auch noch ein kosten­loses warmes Abendessen mit einem schönen Glas Rotwein dazu.

Anders ist das in Schulen. Da kommt der Autor hin und hat sich erst einmal über den Pausenhof zu kämpfen. Dort wimmelt und lärmt ein Völkchen, dem er gleich in der Hoffnung gegen­über­treten wird, es könne Bewegungs­drang und Mitteilungs­sucht bis zum nächsten Pausen­klingeln wenigsten ein bisschen unter Kontrolle halten. Nach Sekretariat und Lehrerzimmer erreicht er schließlich in Begleitung der verantwort­lichen Lehrkraft den Raum der Konfrontation mit einem Publikum, das es gewöhnt ist, in seiner Freizeit Reizgewittern ausgesetzt zu sein. Er aber hat nichts weiter zu bieten als ein Buch, seine Stimme und leicht schwitzende Hände. Doch es nützt ja nichts. Raus muss er zu diesem Auswärts­spiel, um es für die Literatur zu gewinnen.

In Auswärtslesen, einem Bändchen aus der kleinen bibliophilen Litaneien-Reihe des Residenz Verlags, die ihre Geburtsstunde 2007 mit Thomas Brussigs Schieds­richter Fertig erlebte, hat Burkhard Spinnen seine Erfahrungen als Vorleser in Schulen fest­gehalten. Über Jahre ist er mit Ausschnitten aus seinem Roman Belgische Riesen (2000) vor Schülern aufge­treten, so lange, bis er fast froh war, kein zweites Jugendbuch mehr in petto zu haben und sich wieder mit Kennern und Literatur­liebhabern bei Heimspielen treffen zu können. Nun freilich wird ihm nichts anderes übrig bleiben als zurückzukehren in die Aulen und Klassenzimmer, denn mit Müller hoch Drei ist seit einem Jahr wieder ein Buch für die Zielgruppe der „Leser ab zehn Jahren“ aus seiner Feder am Start.

Aber ganz so tragisch ist das nicht. Denn wenn man aus Auswärtslesen etwas deutlich heraus­hören kann, dann ist es der Spaß, den Lesen in der Schule bereitet. Obwohl es körperlich anstrengt, die volle Konzentration des Vortra­genden erfordert samt seiner Bereitschaft, auch einmal eine Veranstaltung zu ertragen, in der man nicht so toll rüberkommt wie gewünscht und – als Konsequenz aus solchen Desastern sozusagen – gewisse Strategien benötigt, um erfolgreich zu sein.

All das spielt in dem vorlie­genden Bändchen eine Rolle, das in zehn Kapiteln – die sich am Ablauf einer Lesung in der Schule orientieren, von der durch ein perfekt funktio­nierendes Navigations­system ermöglichten pünktlichenAnkunft vor Ort bis zu der die Lesung beendenden Fragestunde und dem anschließend abgegebenen Versprechen, gerne wiederzukommen – nicht nur über Spinnens persönliche Höhepunkte und Niederlagen bei Schul­lesungen Auskunft gibt, sondern sich darüber hinaus auf engagierte Weise stark macht für eine Art der Präsenz von Literatur in der Schule, wie sie gegenwärtig gerade verloren zu gehen droht. Ganz nebenbei teilt der Autor uns noch seine Überlegungen zur Schularchitektur der letzten anderthalb Jahrhunderte mit, wundert sich nicht wenig darüber, dass es zu 99 Prozent Lehrerinnen sind, die ihn in ihre Klassen einladen, obwohl es doch auch männliche Vertreter des Fachs geben müsste und macht sich Gedanken über die Studieninhalte zukünftiger Lehrerinnen und Lehrer an den Universitäten und Hochschulen unseres Landes nach der Bolognareform.

Kern von Auswärtslesen ist freilich die Über­zeugung Spinnens, bei der Schule handele es sich um den „wichtigsten Lebensort der literarischen Kultur“ überhaupt. Denn hier trifft die Literatur auf Menschen, bei denen die Entscheidung, inwieweit sie Bücher und Lesen zu wesent­lichen Momenten ihres Lebens und ihrer selbst werden lassen, noch nicht gefallen ist. Insofern tragen alle, die in jenen mindestens zehn Jahren, die jeder hierzulande Deutsch­unterricht erfährt, auf irgendeine Weise mit dieser Materie befasst sind, eine hohe Verantwortung.

Das beginnt bei den Eltern, die, wenn sie in ihrer Familie für eine „Kultur der Sprache“ sorgen, gleich­zeitig die Ein­stellung mitprägen, die ihr Kind dem Deutsch­unterricht und seinen Lek­türen entgegen­bringt. Und es betrifft keines­wegs nur die mit der deutschen Sprache und Literatur fach­unter­richt­lich befassten Lehrer, sondern DIE Lehrer überhaupt. Denn natürlich begegnen die Erkennt­nisse jeglicher Wissen­schaft dem Eleven heute in schrift­licher Form bzw. werden ihm durch Sprache nahe­gebracht. Mit Sprache zu arbeiten, Sprache zu ver­stehen, selbst ver­ständ­lich sprechen zu lernen, sollte deshalb das Ziel in jeder Unter­richts­einheit sein, weil Sprach­kompetenz in der Tat „jeder Sach­kompetenz voran­geht“. Anders und mit dem Autor der vor­lie­genden „Litanei“ gesagt: „Der Deutsch­unterricht beschäftigt sich mit den Voraus­set­zungen für alles Lernen. Denn Lernen heißt Verstehen; und Verstehen heißt immer: Sprache ver­stehen. Eine umfassende Sprachfähigkeit ist die Voraussetzung für den Erwerb aller anderen Fähig­keiten, ja für ein gelingendes Leben schlechthin.“

Wer PISA kennt – gemeint sind natürlich die von der OECD seit 2000 in dreijährigem Abstand veran­stalteten Schul­leistungs­unter­suchungen, die, als sie das erste Mal unternommen wurden, uns, die wir im „Land der Dichter und Denker“ leben, bis ins Mark und tiefer erschüt­terten –, weiß, dass, wenn von „umfas­sender Sprach­fähig­keit“ die Rede ist, die gefürchteten Tests an der Alters­gruppe der 15-Jährigen zur Sprache kommen müssen. Und mit der Normier­bar­keit von Sprach­verstehens­leistungen auch ein Problem, welches das Ver­hältnis von Schule und (schöngeis­tiger) Lite­ratur betrifft. Zu seiner Er­läuterung benutzt Spinnen das zur Zeit in der Mehrzahl der deutschen Bundes­länder prakti­zierte Zentralabitur. Dass eine zentrale Behörde die schriftlichen Prüfungs­aufgaben der Abitu­rien­tinnen und Abiturienten eines Jahr­gangs vor­bereitet, hat durchaus auch Vorteile. Und was die exakten Wissen­schaften betrifft, ist es sicher eine Erleich­terung, wenn die zu bewertenden Ergebnisse im Vorhinein jedem Lehrer schablonen­mäßig an die Hand gegeben werden. Zwei mal zwei ist nun ein­mal vier, in Hamburg wie in München. Verhängnis­voll wird es allerdings dann, wenn auch im Fach Deutsch Kataloge oder „Erwartungs­horizonte“ der Bewer­tung zugrunde­liegen, die einen freien Umgang der Schüler mit litera­rischen Werken einschränken, ja manchmal sogar verhindern. Dann kann es in der Tat passieren, dass eine so intelligente wie eigen­ständige Inter­pretation gerade deshalb noten­mäßig schlechter zu Buche schlägt, weil sie die Intelligenz desjenigen Bürokraten, der für die Punktetabelle der Endabrechnung verantwortlich zeichnete, schlicht übertrifft.

Rezensent weiß übrigens genau, wovon er spricht. Als regel­mäßiger „Gastredner“ im Deutsch­unterricht an thüringischen und bayerischen Gym­nasien und Regel­schulen hat er viele Lehre­rinnen und Lehrer kennengelernt, die engagiert mit Literatur umgehen und ihren Schülern wunderbare Freiheiten lassen, damit Bücher in der Schule mehr sein können als purer Lernstoff. Ihnen vor allem dürfte auch Spinnens Auswärtslesen Mut machen, den Literatur­unter­richt weiterhin als „Probe­raum fürs Selbstdenken“ aufzufassen und nicht als einen Ort, an dem totes literarisches Wissen wie in einem TÜV-Katalog abgefragt wird.

Dietmar Jacobsen   03.01.2011   

 

 
Dietmar Jacobsen