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Kurt Drawert
Der Körper meiner Zeit

Die Verteidigung des Subjekts in seiner Auflösung
Zu Kurt Drawerts Langgedicht Der Körper meiner Zeit
  Rezension
  Kurt Drawert
Der Körper meiner Zeit
Gedicht
ISBN 978-3406698019
206 Seiten, 21,95 Euro
C.H. Beck 2016


„Schreiben ist immer eine psychophysische Durchdringung von Stoff (…). Man muss etwas zulassen können, was andere blockieren, zensieren, verdrängen. Nur so entstehen literarische Texte, die neue Räume eröffnen, überraschend, irritierend, denkwürdig – also des Denkens würdig – sind“, sagte Kurt Drawert in einem Interview mit Barbara Zeizinger auf die Frage, ob er bestimmte Erwartungen an die Teilnehmerinnen und Teilnehmer seiner Darmstädter Textwerkstatt hätte (Bawülon 4/2015, Pop Verlag). Es ist eine klare Absage an Harmlosigkeiten, vor allem aber ist es ein Bekenntnis zur schonungslosen Aufrichtigkeit mit sich selbst. In einem Interview mit Walter Fabian Schmidt (poet Nr. 11) formulierte Kurt Drawert eines seiner grundsätzlichen Anliegen so: „Ein Text, der nicht irritiert oder schmerzt oder zu neuen Sichtweisen zwingt, ist sinnlos für mich, für mein Verständnis von Literatur (…)“ (poet, Nr. 11). Poetologische Positionen (oder vielleicht eher: Dispositionen) von Autorinnen und Autoren sind eng mit persönlichen Grunderfahrungen verknüpft, die meist in der frühen Kindheit liegen werden. In seinem essayistischen Roman „Spiegelland. Ein deutscher Monolog“ (zuerst veröffentlicht im Jahr 1992) erzählt Kurt Drawert von einer traumatisierenden frühkindlichen Erfahrung: Wenn der Vater, ein hoher Kriminalbeamter der DDR, mit dem jungen Kurt Drawert redete, spürte dieser, dass es gar nicht der Vater war, der sprach, „sondern etwas Fernes, Fremdes, Äußeres (…), etwas, das sich lediglich seiner (…) Stimme bediente.“ So erfuhr Kurt Drawert, dass es einen Unterschied gab zwischen dem Mitgeteilten (also dem, was gesagt wurde) und der Mitteilung (dem, was gemeint war) und er konzentrierte sich fortan darauf, herauszufinden, was „auf der anderen Seite des Sprechens“ lag. Diese Erfahrung mag der Ursprung für Kurt Drawerts psychoanalytischem, von den Schriften Jacques Lacans geprägtem Blick auf die Literatur gewesen sein, der engen Verbindung von Körper, Sprache und Text, die hinter allen seinen Arbeiten spürbar ist und auch Grundlage seines neuen Langgedichtes ist, das den treffenden Titel „Der Körper meiner Zeit“ trägt. In diesen Worten schwingen die Auswirkungen der politischen und privaten Gegenwart auf den Körper des lyrischen Ich mit – und das bis an den Rand der Auslöschung. Zum Beispiel weil keiner mehr zuhört.

Im letzten Textabschnitt, der in einer Überschrift die Begriffe „Nachwort + Gebrauchsanweisung“ enthält, legt Kurt Drawert seine Arbeitsmethode für die Zeit der Arbeit am Gedichtband dar, die – bei allem Schutz, den das lyrische Ich bietet – darin besteht, „niemals etwas nicht auszusprechen, das im Blick aus dem Fenster, innen + außen, geschah.“ Was verändert sich dadurch, dass etwas ausgesprochen wird? (Zum Beispiel der Satz „Ich liebe dich“.) Es verschiebt das Subjekt des Satzes in seiner Beziehung zur Umwelt auf eine unberechenbare Weise. Dies gilt auch dann, wenn der Satz nicht ausgesprochen, aber gewünscht oder erwartet wird. Die Sprache ist es, die Menschen gleichzeitig trennt und verbindet. Das Ich stellt sich heraus als „Möbiusband in der Sprache, das Wirklichkeit und Erfindung unendlich ineinander verschiebt“, wie Kurt Drawert im Nachwort schreibt.

Aber wovon handelt eigentlich dieses rund 200 Seiten umfassende Gedicht? Es geht hier – im wahrhaftigen Sinn – um alles, und die Themen, Motive und sprachlichen Herangehensweisen entwickelt sich in jedem der 90 Teile, aus denen das Langgedicht, aufgeteilt auf 5 Bücher, besteht, im Prozess des Schreibens immer neu und an verschiedenen Orten, sei es im Odenwald, in Istanbul oder in der Schweiz. Logisch zu werden oder gar analytisch, das merke ich jetzt, wo ich damit anfange, wird dem Gedicht nicht gerecht. Ich könnte etwas vom Tonfall schreiben, von den Stimmungen zwischen Plauderton, Melancholie, Sarkasmus, Verzweiflung, dann plötzlich wieder Witz und Humor [„Entschuldigung wegen gestern. Heute geht es schon besser“, XVI], ich könnte ein paar Techniken aufzählen (Beobachtung, Assoziation, Reflexion, Erinnerung, Gedankensprung, ein Bild, Erzählung, Essay, Selbstunterbrechung, Bewertung des Geschriebenem, Zitate, Selbstzitate, Anmerkungen zur Rechtschreibung und unglaublich gute Dialoge) oder Themen (dazu gleich). Ständig überschreibe ich meine Notizen und Überlegungen für diese Rezension, wie ein Palimpsest. Ich nehme das Buch wieder in die Hand und lese es plötzlich anders, entdecke einen Gedanken neu, streiche meine bisherigen Notizen, die mir nun banal erscheinen. Mein Aufwerfen und Verwerfen von Gedanken beim Nachdenken über das Buch ist in der Struktur des Buches angelegt, denn dessen wesentliches Element liegt in einer Verweigerung und damit in der Tradition Herman Melvilles Figur Bartleby. „Mein T-Shirt mit der Meldung // I would prefer not to hängt nass auf der Leine.“ Ein Gedichtteil, Nummer LIII, besteht fast nur aus einer Verweigerung, ich schreibe „fast“, weil eine komplette Verweigerung in einer Publikation nicht möglich wäre: „(Hier steht nichts.)“ (…) „(Und hier könnte jetzt auch Ihre Werbung stehen!)“. Sex sells, wissen wir, aber auch da macht Kurt Drawert nicht (immer) mit und schwärzt eine heiße Passage in Gedicht Nr. LXXX.

In jedem, wirklich jedem Gedichtteil wird irgendein Aspekt aus dem Bereich der Wirtschaft erwähnt, und das Buch wimmelt nur so vor zitierfähigen, klugen und originellen Sentenzen, aus allen Bereichen. Es wirkt fast zwanghaft, wie das lyrische Ich seine Einbindung in die Ökonomie wahrnimmt und ablehnt, und andererseits – wir befinden uns in der Nachwendezeit – doch nicht anders kann als Teil zu sein einer Verwertungsindustrie. „Die Liebe ist die einzige Marktlücke, die nicht gefüllt // werden kann, doch darüber will ich / nicht schreiben.“ So heißt es in Buch (I), VIII. Bald darauf, in Buch (2) beginnt dann aber eine Liebesgeschichte, deren Reflexion für den Rest des Gedichtbandes ein zentrales Thema sein wird.

I cannot make it cohere, schrieb Ezra Pound in seinen “Cantos". Ich kann es nicht zusammenfügen. Das Langgedicht steht eher in der angloamerikanischen Tradition, weniger in der deutschsprachigen. Thesen und Überlegungen zum Langgedicht der 1960er Jahre haben Hans Bender und Michael Krüger in dem Band „Wohin geht das Gedicht?“ zusammengetragen. Walter Höllerer sprach vom Sichtbar-Werden im Langgedicht; nach William Carlos Williams kommt es vor allem auf die Energie innerhalb der Form an. Durch die enorme Vielfalt in Inhalt und Form wirkt Kurt Drawerts Langgedicht energetisch fein ausbalanciert und es steckt voller Spannung und Unberechenbarkeiten. Im Jahr 2013 erschien im Luxbooks Verlag eine von Matthias Göritz und Uda Strätling erarbeitete Übersetzung von John Ashberys Langgedicht „Flow Chart“. Ich erinnere mich daran, dass mir Kurt Drawert erzählte, dass er das Buch gelesen habe und sehr begeistert davon war. Eine Lektüre, die spürbar ist, im Hintergrund.

„Der Körper meiner Zeit“ ist auch eine Reflexion über die Grenzen klassischer Werte in einer Welt, die immer unberechenbarer zu werden scheint. Inwieweit tragen Bildung und Intelligenz zu einem erfüllten (Liebes-)Leben bei? In der Türkei und am Ende aller Illusionen kommt es zu einer Begegnung mit einem Straßenhund, der sich vorübergehend dem lyrischen Ich anschließt und dessen Aufmerksamkeit sucht. „Yaris / weiß nicht, dass er nichts weiß, und das macht ihn mir über- // legen.“ Die zur Reflektion fähige Intelligenz scheint zu scheitern. Gegen Ende des Buches heißt es: „Mein Unterbewusstsein ist klüger als mein / Wissen vom Wissen.“ Und, gerichtet an Klara, am Ende der Liebe: „Mit dir / zu sein, war eine Metapher. Ich hätte es wissen können. Aber / ich wollte das Buch.“ Das unterbewusste Wissen hat das lyrische Ich also nicht daran gehindert, eine Erfahrung zu machen, von der es ahnte, dass es Grundlage eines Buches werden würde.

Das lyrische Ich behauptet sich, immer wieder, indem es sich verflüchtigt. Es entzieht dem Interpreten den Boden, durch Sätze wie „Wenn ich ehrlich bin, muss ich gestehen, dass ich immer nur lüge.“ Das Gedicht lässt sich nicht fassen, nicht festlegen, schon windet es sich und entzieht sich – und darin liegt seine subversive Kraft. „Es gibt nur einen Ort, sich selbst nie zu treffen, und das ist / die Sprache.“ Der Lesende bewegt sich wie in einem Zug, der in einer Möbiusschleife zwischen Erfindung und Wirklichkeit gefangen ist. Ich saß in diesem Zug, ich las eine Sammlung mit Kurzgeschichten von James Salter. Das Buch hieß „Letzte Nacht“, und in der Geschichte mit dem Titel „Die Gabe“ taucht ein Dichter mit dem Namen Des auf, der eine wichtige Rolle spielt, und auf etwa einer Seite wird der Inhalt des Gedichtbandes beschrieben, der Des bekannt gemacht hat und durch den sich die Erkenntnis zieht „dass du etwas gehabt hast, dass du es immer haben wirst, es aber nie haben kannst.“ Es sind Sätze, die nur dann widersprüchlich klingen, wenn man sie logisch betrachtet, Sätze, die den Kern von Kurt Drawerts neuem Buch zutreffen. „Der Körper meiner Zeit“ ist ein Langgedicht, das Maßstäbe setzt. Ein Zusammenbruch, und gleichzeitig ein Fest des Intellekts. Es ist ein Text, der sich selbst vollkommen genügt. Und doch, er sucht den Austausch. Ein Meisterwerk.
Martina Weber     11.12.2016     Layout-/Druckansicht  Zur Druckansicht - Schwarzweiß-Ansicht

 

 
Martina Weber
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