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Jürgen Ploog

Gespräch mit Martina Weber für den poetenladen
»Die Literatur schottet sich ab«
  Gespräch

Foto: Martina Weber
 
poet nr. 21  externer Link
poetenladen, Herbst 2016

Literatur und Fort­schritt lautet das Ge­sprächs­thema der 21. poet-Ausgabe: Das Thema ist weit ge­spannt: vom Fort­schritts­gedan­ken, der sich auf lite­rarische Ver­fahren bezieht, bis zu The­men, die sich aus tech­nischen Inno­vatio­nen oder ver­änderten Lebens­bedingungen ergeben. Natürlich gehören die neuen Medien und digitalen Möglichkeiten hierher, die den Buchmarkt grundlegend verändern.

Jürgen Ploog wurde 1935 in München geboren, studierte Gebrauchsgraphik und arbeitete mehr als 30 Jahre als Langstreckenpilot. Er war Mit­herausgeber der Literaturzeitschrift Gasolin und der Anthologie Amok Koma und lebt in Frankfurt am Main. Zu seinen zahlreiche Buchpublikationen zählen Monografien, Romane, Stories, Essays und Logbücher. Cola Hinterland heißt sein Debütroman, der 1969 im Melzer Verlag erschien. Weitere Publikationen: Radarorient (1975/2015), Nächte in Amnesien (1980/2014) sowie Straßen des Zufalls. Über W.S. Burroughs (1983/1998). In neuerer Zeit er­schie­nen u.a. Unterwegssein ist alles – Tagebuch Berlin–New York ([SIC] Lite­raturverlag, 2011) und Die Recall- Protokolle (Verlag Peter Engstler, 2014).
Homepage: Jürgen Ploog  externer Link .

Das gedruckte Interview entstand aus den digitalen Aufzeichnungen während eines persönlichen Gesprächs am 28. April 2016 in einem traditionsreichen Café in Frankfurt am Main. Jürgen Ploog trägt den Band »Westwärts 1&2« von Rolf Dieter Brinkmann in seiner Jackentasche, er liest mir ein Gedicht vor und ich zeige ihm ein Gedicht in dem Buch, das mir besonders gefallen hat: »Fotos 1, 2«.


 

Martina Weber: Ich habe jetzt auf »Aufnahme« gedrückt. Da wir uns hier zu einem Gespräch zum Thema Literatur und Fortschritt verabredet haben und ein Teilbereich davon der technische Fortschritt ist, wäre die erste Überlegung die nach der angemessenen Technik für ein Interview. Die Methode beeinflusst das Ergebnis ja ganz enorm, in allen Bereichen.

 

Jürgen Ploog: Es gibt Menschen, die druckreif sprechen. Günter Grass zum Beispiel. Das ist Kunstsprache und nicht die eigentliche Sprache. Beim Schreiben ist es wieder etwas anderes. Es war auch ein Anliegen der Beats, die gesprochene Sprache in die Lyrik einzuführen, nicht dieses Gedrechselte und germanistisch Korrekte. Gerade Kerouac: spontan! Das ist das Beste.

 

M. Weber: (zur Kellnerin): Ich hätte gern ein Kännchen Darjeeling. Und einen – was ist das?

 

J. Ploog:Ein Himbeertörtchen.

 

M. Weber: Also, ein Himbeertörtchen. Herr Ploog, eines Ihrer zentralen Themen ist das Bewusstsein und – noch zentraler – das Unterbewusstsein. Die Entwicklung der Technik wird oft mit Fortschritt in Verbindung gebracht. In Ihrem Essay Simulatives Schreiben, veröffentlicht im Jahr 2008, erklären Sie, wie die Erfindung der Dampfkraft und des elektrischen Stroms das menschliche Bewusstsein veränderten. Die Wirkungen des Stroms entziehen sich der unmittelbaren Wahrnehmung, was zum Zusammenbruch des kausalen Weltbildes führte. Der veränderte Blick auf die Wahrnehmung brachte einen veränderten Blick der Ästhetik mit sich. Das Phänomen des Zufalls wurde ernster genommen. So schreiben Sie dann auch im Nachwort Ihres Buches über William S. Burroughs Strassen des Zufalls: »Cut-up & andere Techniken, die Burroughs einsetzt, mit denen noch vor wenigen Jahren die Fraktion der literarischen Sekundär-Adepten nichts anzufangen wusste, die sie kopfschüttelnd nicht-registrierte, sind heute weitgehend Lese- & Schreibgemeingut.«

 

J. Ploog:Es gibt eine Entwicklung in der menschlichen Sprache. Früher dachten Menschen mehr in Reimen und die Lyrik sprudelte deshalb in gereimter Form aus ihnen heraus. Das hat auch mit der Erfindung der Schrift und des Buchdrucks zu tun. Die Epoche der Klassik war die Zeit, in der die gesprochene Sprache mit der geschriebenen im Gleichgewicht war. Heute sagt uns das nicht mehr so viel. Das Bewusstsein hat sich weiter­entwickelt. Wir denken mehr in Brüchen, in Entwürfen, im Ex­pe­rimentalbereich. Ich meine damit nicht die typische Experimental­literatur, sondern Texte, die in unentdeckte Räume führen, wie bei Brinkmanns Gedicht Fotos 1, 2, das Ihnen so gut gefällt. Da werden Zwischenräume sichtbar.

 

M. Weber: Andere nennen es den Mehrwert. Wie lang lassen Sie Ihren Tee eigentlich ziehen? Und wie funktioniert bloß dieses Kurzzeitmess­gerät, das die Kellnerin hierher gestellt hat? So eins habe ich noch nie gesehen.

 

J. Ploog: (so, dass es die Kellnerin hören kann): Man bräuchte eine Kurzanleitung dafür.
[Die Kellnerin tritt auf, nimmt das Kurzzeitmessgerät (einen kleinen quaderförmigen gläsernen Gegenstand mit einem mysteriösen aquariumsähnlichen Innenleben) in die Hand und dreht es um. Blaue tintenartige Farbe bewegt sich schwebend nach oben.
Kellnerin: »In drei Minuten ist die gesamte Farbe im oberen Teil. Dann ist der Tee fertig.«]

 

M. Weber: Danke, cool. – Herr Ploog, in Ihrem Buch Facts of Fiction, das im Jahr 1991 erschien, sind Essays über Literatur versammelt. Zu Beginn Ihres Textes Feldnotizen der Wahrnehmung diagnostizieren Sie eine Wahrnehmungskrise. Da steht: »Das Wort steckt in einer Krise, jeder redet davon, aber wenige sagen es. Es wird nicht nur weniger, es wird auch anders gelesen.« Und in Ihrem Interview vom Januar 2011 mit dem inzwischen verstorbenen Frankfurter Lyriker Hadayatullah Hübsch wandeln Sie ein berühmtes Adorno-Zitat* so ab: »Es gibt kein richtiges Lesen im falschen Leben. Das Lesen hat sich verändert.« Inwieweit hängt technischer Fortschritt mit dem Lesen zusammen?

 

J. Ploog:Ich mache da immer noch ein Fragezeichen, ob sich das Lesen verändert hat. Wenn sich das Lesen wirklich verändert hätte, wären meine Bücher wahrscheinlich Bestseller.
Das Leseverhalten ist auf dem Stand der Zeit vor 1900 stehen geblieben. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die literarische Avantgarde (Expressionismus, Dadaismus, Surrealismus) in alle Richtungen marschiert. Alles ist wieder eingeebnet worden. Es geht im Literaturbetrieb immer noch um die klassisch erzählte Geschichte mit Anfang, Ausführung und Ende. So kommt es, dass die Art zu schreiben, die ich für zeitgemäß halte, nicht auf eine entsprechende Lesehaltung stößt. Jemand sagt dann zum Beispiel: »Wo fängt das an? Und wie kann es sein, dass ein Kapitel in Bangkok aufhört und in New York weitergeht?« Ist doch klar, die Figur ist dorthin geflogen. Das muss ich doch nicht im Text sagen.

 

M. Weber: Manchmal benötigt das Publikum vielleicht einfach nur etwas Erklärung. Ich hatte gerade am Wochenende eine Lesung gemeinsam mit Frank Milautzcki in Mörfelden. Frank und ich schreiben beide eine sehr sprachlich orientierte vielschichtige und teilweise fragmentarische Lyrik. Wir trafen auf ein Publikum mit der Erwartungshaltung, ein Ge­dicht sei etwas Gereimtes. Wir lasen auch Auszüge aus unseren poetologischen Arbeiten und am Ende der Lesung führten Frank und ich erst miteinander und dann mit dem Publikum ein Gespräch über unser methodisches Herangehen und die Gründe dafür. Das hat allen einen Zugang zu gegenwärtiger Lyrik eröffnet, und einige waren sogar begeistert.

 

J. Ploog:Das klingt wie literarische Sozialarbeit. Die Korrespondenz zwischen Publikum und Schreibenden findet nicht durch Erklären statt. Ich würde nie etwas aus meinen Texten erklären. Das ist sinnlos, das lehne ich völlig ab. Das Publikum, dem Sie da begegnet sind, ist irgend­wo zwischen Tradition und Konvention hängengeblieben. Jetzt haben Sie den Leuten einen Tipp gegeben, dass inzwischen das 20. Jahrhundert bzw. das 21. Jahrhundert, angefangen hat. Aber das ist keine wirkliche Korrespondenz. Die findet erst statt, wenn sich das Lebensgefühl von Publikum und Schreibendem treffen. Ich beziehe mich dabei auf eine bestimmte Situation, als Allen Ginsberg in San Francisco aus The Howl gelesen hat, während das Publikum jubelte und schrie, weil es genau verstand, was er meinte.

 

M. Weber: Ich erinnere mich daran. Der Film Howl kam im Jahr 2010 ins Kino: Eine düster beleuchtete Kneipe, überall Zigarettenrauch und die Leute konnten nicht auf ihren Stühlen sitzenbleiben, so aufgekratzt waren sie. Ich hatte den Eindruck, alle spürten, bei einem bedeutsamen Ereignis der Literaturgeschichte dabei zu sein. Und ich dachte, wow, was Lyrik bewirken kann. Und neulich habe ich nach langer Zeit wieder einmal den Film Dead Poets Society (Der Club der toten Dichter) gesehen. Was für eine Begeisterung. Heute scheint das kaum mehr möglich zu sein.

 

J. Ploog:Wenn dieser Gefühlskonnex nicht da ist, können Sie gleich wieder einpacken. Diese Leute, von denen Sie sprachen, verstehen Sie nicht, sie kommen von einem anderen Planeten. Das ist sicherlich auch mein Problem mit einer breiteren Leserschaft, denn meine Lebenserfahrungen sind stark von Impulsen geprägt, die von Beat, jahrelangem Reisen und dem Fliegen ausgingen, und das korrespondiert nicht mit den üblichen mitteleuropäischen Lebensverhältnissen. Ich werde gelegentlich »Beatdichter« genannt, dabei bin ich weit davon entfernt, die Vor­aus­setzungen dafür zu erfüllen. Schon weil ich kein Amerikaner bin. Beats sind im besten Sinn Bohemiens, sie leben in den Tag hinein, schreiben aber verdammt gute Texte dabei. Burroughs passte nicht in dieses Schema, er war aber anders, eher europäisch, was hierzulande niemand wahrhaben will. Sehr überlegt und sehr belesen. Auch bei der Anwendung der Cut-up-Methode behielt er die 100-prozentige Kontrolle, indem er die Texte am nächsten Tag prüfte und wegwarf, wenn sie nichts taugten. Burroughs hielt künstlerisch auch immer Distanz zu den Beats. Ich habe die literarische Herangehensweise zwar übernommen, soweit ich es konnte, aber das Lebensgefühl bekommt man nur, wenn man eine Zeitlang an der Lower Eastside gelebt hat, und das habe ich nicht. Ein Lebensgefühl entsteht nur durch Erfahrung. Es geht darum, wie oft jemand auf die Schnauze gefallen ist, was es bedeutet, wieder hochzukommen. Es geht um die Begegnung mit dem Tod oder der Liebe oder darum, wie sich jemand verhält, wenn er eins in die Fresse kriegt. Das prägt die Sicht auf Welt und auf Menschen. Wofür stehst du, was ist deine Sicht? Erzähl sie mir. Darum geht es in der Lyrik, nicht darum, Worte herumzuschieben oder schöne Sätze zu machen.
Ein Maler, mit dem ich befreundet war, gab Malkurse und sagte mir, es sei das Schwerste für seine Schüler gewesen, eine gerade Linie zu ziehen, denn dafür müssen Hand und Geist eine Einheit bilden. Eine gerade Linie: eine große Kunst. Ich selbst würde keine Schreibkurse leiten. Schreiben lernt man nur durch Schreiben.

 

M. Weber: Das finde ich nicht ganz so. In meinen Seminaren in Darmstadt reden wir intensiv über die Texte und dabei kommen die Schreibenden immer entscheidende Schritte weiter. Natürlich knüpft das an eine Begabung an, sonst hat es keinen Sinn.

 

J. Ploog:Ich habe so nie gearbeitet. Ich habe mit Freunden, Fauser, Weissner, Texte ausgetauscht. Wir haben sie uns zugeschickt und gesagt: »Mach damit, was du willst«, »gefällt mir« oder »gefällt mir nicht«, »da mach ich was dazu«. Das fand ich gut, aber zusammensitzen, sich gegenseitig Texte vorlesen und einander fragen, wie meinst du das? Das nimmt den Texten die Magie.

 

M. Weber: Mir ist bewusst, dass die Technik der Textbesprechung einen Text zerstören kann. Die falsche Textbesprechung kann auch das Schreiben zerstören. Mir ist die Magie eines Textes sehr wichtig, und ich schätze die Magie in Ihren Texten, und ich achte darauf, dass die Magie auch bei der Besprechung von Texten erhalten bleibt. Das ist durchaus möglich, nämlich dadurch, dass nur die anderen reden, nicht der Autor oder die Autorin. Der Schreibende soll sich gar nicht äußern oder etwas erklären, er kann es aber, jedoch erst am Ende.

 

J. Ploog:Das ist wie bei der Gruppe 47, verstehen Sie? Was nimmt denn ein Autor, der aus Hintertupfing zu Ihrem Seminar anreist, mit?

 

M. Weber: Eigentlich müssten Sie das die Autoren fragen. Das kann ich nur an Beispielen erklären. Vor einiger Zeit stellte eine Autorin einige Gedichte, die sie in englischer Sprache geschrieben hatte, vor. Diese spielten an einem für sie wichtigen Ort in Australien. Ich hatte ihr geraten, einen Zyklus daraus zu machen, weil ich das Potential zu mehr Texten zu dem Themenbereich gesehen habe, und ihr einige Gedichtbände zur Lektüre empfohlen, die in einem ähnlichen, aber doch auch etwas anderen Stil geschrieben waren wie das, was die Autorin vorgelegt hatte, und fast alle aus dem englischsprachigen Raum. Die Autorin war begeistert und geriet in einen Lese- und Schreibrausch. Ich hatte ihr aber auch gesagt, dass ich wenig von ihr in den Texten spüre und dass ich die Gedichte für brav halte. Das hat sie nachdenklich gemacht. Meistens geht es also darum, die Autoren in dem zu stärken, worin sie gut sind und sie dabei zu unterstützen, die eigene Stimme zu finden.

 

J. Ploog:Gut, interessant. Das ist genau das, worauf es ankommt. Wie findet man die eigene Stimme? Sagen Sie das auch?

 

M. Weber: Dafür gibt es kein Patentrezept. Es hängt auch mit Erfahrungen zusammen.

 

J. Ploog:Das ist der entscheidende Punkt. In sich hineinhören. Das ist nicht leicht. Im Prinzip lehne ich Ratschläge zum Schreiben grundsätzlich ab. Mir gab einmal jemand den Rat, mit der Straßenbahn durch Frankfurt zu fahren und darüber zu schreiben. Das habe ich natürlich nicht gemacht und mir vorgenommen, Ratschläge zu ignorieren.

 

M. Weber: Ich würde auch nicht mit der Straßenbahn durch Frankfurt fahren.

 

J. Ploog:Da war sie wieder! Schauen Sie. Hier läuft eine Maus. Sehen Sie sie?

 

M. Weber: Wo? Ja, da. Tatsächlich.

 

J. Ploog:Problematisch ist auch: Jeder schreibt! Die Romane, die heutzutage geschrieben werden, sind »Produkte«. Bücher werden von den Verlagen und Lektoren gemacht. Ich weiß nicht, welche Rolle der Schriftsteller dabei noch spielt. Die Bücher sind Machwerke. Große Teile des Publikums sind entmündigt, sind leicht beeinflussbar. Wenn ihnen jemand erzählt, was ein guter Roman ist, dann glauben sie es und lesen das Buch. Das in etwa ist der Sinn von Büchersendungen wie dem Literarischen Quartett. Wohlgemerkt Bücher- und keineswegs Literatursendungen. 99 Prozent des Literaturbetriebs fungiert als Wiederverwertungsanstalt. Literatur hat sich selbst kastriert. Geschrieben wird, was ankommt.
Cut-up ist ein Versuch, gegen den Strich zu schreiben und lebt von Experimentierfreude. Eine Versuchsanordnung, die der Jagd nach dem Zufall dient. Dahinter steckt eine Art Quantentheorie des Worts. Was soviel heißt wie ein verändertes Verhältnis zum Wort herstellen. Denn was bedeutet Schreiben, wenn es nicht nur der Unterhaltung dient? Aber die Literatur schottet sich ab, wird dirigiert von geheimen Geistern wie Kritikern, Lektoren, Agenten und Verlegern. Von Faktoren, die mit Literatur wenig zu tun haben. Und da steht der Schriftsteller und versucht, es allen recht zu machen. Anstatt aufzustehen, wie Brinkmann, und zu sagen: Euch gibt es gar nicht. – Ich fordere den autonomen Autor, der sich erst einmal hemmungslos umsieht (dabei kann er auch in einem Café sitzen). Und dann versucht, seiner Sichtweise eine sprachliche Form zu geben.

 

M. Weber: Sigrid Fahrer schreibt in ihrer Untersuchung Cut-up. Eine literarische Medienguerilla, dass Rolf Dieter Brinkmann für die Cut-up-Clique kein Underground-Schriftsteller war, sondern zum Literaturestablishment zählte, weil er publiziert hatte und öffentlich auftrat. Brink­mann interpretierte das Schnittverfahren auch auf eigene Weise. Es ging ihm nicht um das zufällige Arrangement, sondern um eine fragmentierte Wahrnehmung, die bereits im Blick angelegt ist. Brinkmann hatte also als Undergroundautor begonnen, landete dann aber im Mainstream.

 

J. Ploog:Eigentlich war es umgekehrt. Er hat gegen Ende seines Lebens den Laden durchschaut. Deshalb seine Wut ... Es stimmt. Brinkmann war erfolgreich, auch mit seinem eher gradlinig geschriebenen Roman Keiner weiß mehr. Ich weiß nicht, ob er in Westwärts 1&2 schon mit Cut-up gearbeitet hat. Einige Passagen in Naked Lunch von Burroughs lesen sich wie Cut-ups. Er hatte das also schon irgendwo im Kopf. So könnte es auch bei Brinkmann in Westwärts gewesen sein.
Mit Cut-up fing es 1959 an, als Bryon Gysin die Methode entdeckte. Beim Cutten geht es – im Unterschied zur Collage, wie sie zum Beispiel im Surrealismus üblich war – jedenfalls um den ganz knallharten Schnitt, der auf etwas völlig Andersartiges stößt. Ich muss es nicht so stehen lassen, aber dabei passiert etwas, da kommt etwas hoch, der Zufall, oder Dinge, von denen ich nicht weiß, woher sie kommen. Es ist wie im Traum. Hier spielt sich etwas im Kopf ab, das mit dem schöpferischen Geist zu tun hat. Der Schnitt schafft einen Raum, der ihm sozusagen zum Leben verhilft. Denn er stellt sich nicht ein, wenn sich jemand hinsetzt, um beispielsweise ein bestimmtes Gesicht zu malen. Der schöpferische Geist kommt nur, wenn ich ihm völlige Freiheit lasse, also gar nicht weiß, was ich malen möchte. Aus dem Gesicht kann ein Tier werden, das ohne das Wirken des schöpferischen Geistes nicht entstanden wäre. Das lässt sich bei den Bildern von Burroughs deutlich nachvollziehen. Jetzt komme ich wieder auf die 99 Prozent. Wie kommt nun der schöpferische Geist aufs Blatt Papier? Wer einfach nur eine Geschichte aufschreiben will, die ihm vielleicht vor kurzem passiert ist, und das möglichst geschickt, dann bleibt gewöhnlich schöpferisch wenig Spielraum und läuft auf Handwerk hinaus.

 

M. Weber: Woher nehmen Sie Ihr Material für die Cut-ups?

 

J. Ploog:In der frühen Phase habe ich meist völlig wahllos beliebiges Material verwendet. Aber auch eigenes. Es war amüsant und ging wie Kraut und Rüben durcheinander. Wild ... In der Phase entstand Cola-Hinterland. Dabei kommen Sätze wie: »Die Straßenbahn fährt durch das brennende Paris« zustande. In der Vorstellung wird daraus ein Bild, das mit anderen Situationen kollidiert, die ich mit einer brennenden Stadt assoziiere. Dissoziation schlägt in Assoziation um und umgekehrt. Aus den zerschnittenen Seiten entsteht dann eine ganz andere Struktur. Und, interessanterweise, wenn ich am nächsten Morgen wieder über dieselben zerschnittenen Seiten lese, ergeben sich ganz andere Bilder und Szenen.

 

M. Weber: Weil Sie in einer anderen Verfassung sind.

 

J. Ploog:Genau. Heute bin ich soweit, dass öfter Geschichten entstehen, meist geografisch bedingt. Beispielsweise reist jemand von Los Angeles nach Mexiko. Ich weiß nicht, was ihm dabei passiert, ich erfinde nichts. Es ist nicht so, dass ich meine Imagination völlig ausschalte, aber sie bleibt ständig in Verbindung mit den zerschnittenen Satzteilen. Die lese ich, bevor ich weiterschreibe. Schreiben ist zunächst lesen, sehen. Was ist nun mit der Straßenbahn in Paris? Was passiert in Paris? Es ergibt sich aus dem, was ich als Textteil vor mir habe. Manches passt natürlich nicht. Dann nehme ich zwei andere Seiten. Irgendwo stoße ich auf die richtige Stelle. So setzen sich meine Texte zusammen. Immer auf der Grundlage der zerschnittenen Textteile.

 

M. Weber: Und dafür verwenden Sie Ihre eigenen Texte?

 

J. Ploog:Meist verwende ich eigene, manchmal auch fremde. Bei fremden Texten kann es passieren, dass sie mich nicht genug anregen und ich nicht recht weiß, wie die Atmosphäre aussieht, auf die sie sich beziehen. Sie bleiben fremd. Früher habe ich brachial völlig fremde Texte zerschnitten: Kriminalromane, Pornos.

 

M. Weber: Für Ihre Arbeit Die Fickmaschine. Ein Beitrag zur kybernetischen Erotik aus dem Jahr 1970.

 

J. Ploog:Und in Cola-Hinterland. Heute mache ich das nicht mehr so hemmungslos, weil ich den Leser und mich nicht mehr so überfordern will. Von Porno zu einer Piratengeschichte in wenigen Zeilen ist auch mir auf Dauer zu stressig.

 

M. Weber: Am Ende Ihres Bandes Sternzeit 23 steht die Anmerkung, dass der Text auf einem Roman von Claude Pélieu beruht.

 

J. Ploog:Stimmt, ich hatte einen Text von ihm zerschnitten. Wir nannten das Kollaboration. Carl Weissner schickte mir einen Text, ich nahm einen von mir, und so entstand ein neuer Text, den ich wiederum an Carl zurückschickte, der wieder etwas Neues daraus machte. Sehen Sie, das sind strukturelle Ereignisse, die interessant sind, weil sie etwas enthalten, was ursprünglich nicht zu erwarten war und auch etwas unbestimmt bleiben. Es setzt beim Leser voraus, dass er auf dieser unbekannten Landkarte mitreist. Wenn der Leser anfängt zu fragen, wo bin ich?, dann beginnt er mitzudenken und findet etwas heraus. Nicht aber, wenn er sagt: Verstehe ich nicht. Das ist leider eine häufige Reaktion auf meine Texte, weil sie gängige Leseerwartungen nicht erfüllen. Aber genau darum geht es. Ohne Denken ist lesen unmöglich.

 

M. Weber: Ja, klar.

 

J. Ploog:Aber wir müssen uns fragen: Ist es nicht so, dass man beim Lesen vieler Bücher gar nicht überlegen muss? Zum Beispiel bei einem von Spannung lebendem Roman, bei dem es nur darum geht, wer wen ermordet hat?

 

M. Weber: Sie meinen, weil es beim Lesen nur um das Nachvollziehen der Handlung geht. Und deshalb ist das Lesen nicht Denken, sondern Konsum.

 

J. Ploog:Konsumentenliteratur, genau. Es gab immer einen Teil von Literatur, der nur denkerisch zu erfahren war. Cervantes oder Proust zum Beispiel. Was mentale Unterhaltung nicht ausschließt, ganz im Gegenteil.

 

M. Weber: So, wie Sie von Ihrer Arbeitsmethode erzählen, habe ich nicht den Eindruck, dass sich das Internet spürbar auf Ihr Leben als Schriftsteller ausgewirkt hat. Das Internet kann ja viel ermöglichen. Es ist ein Materialpool, Forum für Publikationen und es ermöglicht Vernetzung.

 

J. Ploog:Jeder lebt heutzutage mit oder im Internet. Es ist Teil der digitalen Veränderungen, denen sich niemand entziehen kann. Das muss sich nicht direkt, sozusagen analog zeigen. Aber über kurz oder lang können Folgen auf die Denk-, Erzähl- und Leseweise nicht ausbleiben. In einem digitalen Umfeld wird das Wort aus seiner linearen, von Kontinuität geprägten, assoziativen Umklammerung fallen und ihm dadurch einen Teil seiner konditionierenden Wirkung entziehen. Ganz im Sinn von Gertrude Stein: Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose ... und mehr nicht.

 

M. Weber: Wie sieht es mit der mündlichen Präsentation von Literatur aus? Haben Sie mit Carl Weissner und Jörg Fauser oder anderen Autoren, mit denen Sie kollaboriert haben, auch Lesungen gestaltet? Sie haben doch auch eine Literaturzeitschrift mit herausgegeben, Gasolin, und waren Herausgeber der Anthologie Amok Koma. Da gab es doch sicherlich auch Präsentationen. Und es werden vermutlich keine braven Wasserglaslesungen gewesen sein.

 

J. Ploog:In den 1960er und 70er Jahren waren Lesungen oft Ereignisse und es kam viel auf den Auftritt an. Einige haben das auf die Spitze getrieben und ein Spektakel daraus gemacht. Und das Publikum hat seinen Beitrag dazu geliefert, oft auch bis zum Exzess. Manchmal war es nötig, penetrante Störer an die Luft zu setzen. Weissner, Fauser oder ich haben uns allerdings nie als Performer gesehen.
Heutzutage habe ich wenig Interesse, Lesungen zu machen. Literaturveranstaltungen in Deutschland leben nicht. Sie werden als gepflegte Langweile inszeniert. Wo kann Literatur noch stattfinden? Die jungen Leute haben kein Interesse mehr an Literatur, sie sind nur mit ihren Handys beschäftigt. Waren Sie mal auf einer Literaturveranstaltung mit einem lebendigen Publikum, etwa in New York oder Amsterdam?

 

M. Weber: Nein. Was passiert da?

 

J. Ploog:Da gibt so etwas wie Atmosphäre. Man spürt, dass man Menschen und keine Zombies vor sich hat. Sie reagieren, gehen mit. Es ist locker und offen, ein Erlebnis. Und hier sitzen diese ... man kommt sich vor wie in der Kirche.
[setzt sich sehr gerade hin, die Hände auf den Knien ineinander gelegt, ernster Gesichtsausdruck, als säße er auf einer hölzernen Kirchenbank]

 

M. Weber: (lacht): Ja, stimmt.

 

J. Ploog:Leute, die ihre Freiheit an der Garderobe abgegeben haben. Das alte Europa stirbt, Tag für Tag ein kleines Stückchen. In den 60ern war es anders, da hatten junge Leute das Lebensgefühl, sich nichts gefallen zu lassen und zu tun, was sie wollten. Eine wunderbare Sache. Wir sind in einer Umbruchssituation. Irgendwo ist der Weg.
Ich glaube, wir müssen jetzt gehen.
(Zur Kellnerin): Um sieben machen Sie zu, ja? Aber erst, wenn Sie die Maus gefangen haben.

 

M. Weber: Vielen Dank, Herr Ploog, für das Gespräch.

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*) »Es gibt kein richtiges Leben im falschen.« (Theodor W. Adorno, in: Minima Moralia)
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