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ES GIBT / MIR EINEN ORT
Leonce-und-Lena-Wettbewerb 2015
Zum 19. Literarischen März in Darmstadt
Leonce-und-Lena-Preis für David Krause |
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Die Preisträger: Özlem Özgül Dündar, David Krause, Anja Kampmann
Fotos: Christel Steigenberger
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Für diejenigen, die der Jurydiskussion aufmerksam zugehört hatten, war die Preisvergabe an David Krause (Leonce-und-Lena-Preis) sowie Özlem Özgül Dündar und Anja Kampmann (Wolfgang- Weyrauch-Förderpreise) keine Überraschung. Prämiert wurden die Arbeiten dreier bescheiden auftretender Autoren, deren Lyrikdebüts noch bevorstehen. Daneben gab es eine Reihe von Lyrikern, vor deren Texten die Jury trotz ernsthaften argumentativen Bemühens ratlos blieb. Am Ende des Wettbewerbs stellt sich mir die Frage nach den Kennzeichen eines hohen ästhetischen Risikos.
Können wir uns durch die Poesie noch erkennen?
Oberbürgermeister Jochen Partsch begann seine Eröffnungsrede mit einigen Gedanken aus Arne Rautenbergs Beitrag „Wo bitte ist Ihr Lyrikregal?“ aus der FAZ vom 9. März diesen Jahres. Auf der einen Seite die Marginalisierung der Lyrik im Verlagswesen, auf der anderen Seite die Begeisterungsfähigkeit von Kindern für Gedichte. Poesie als der weltweite und zeitübergreifende Code der Feinsinnigen. Moderatorin Insa Wilke erzählte vor der Auslosung der Lesereihenfolge von den Folgen der Verleihung des Preises der Leipziger Buchmesse an Jan Wagner: In Radiodiskussionen bekannten sich Anrufer zu Stapeln von Gedichtbänden in ihren Schlafzimmern. Es sind Klassiker: Mascha Kaleko, Rilke. Die Lesenden wollten immer die Bilder von gestern. Der Gegenwartslyrik käme es jedoch darauf an, unsere Lese- und Arbeitsweisen in Frage zu stellen.
Moderatorin Insa Wilke |
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Monika Rinck: Lyrik im Dialog |
„Du kannst einfach zum Zigarettenautomaten gehen. Es muss sich nicht reimen.“ (Monika Rinck)
Die aktuelle astronomische Situation veranlasste Monika Rinck dazu, ein Gedicht von Christine Lavant vorzutragen: „Zieh den Mondkork endlich aus der Nacht“. Im Gespräch mit Heinrich Detering ging es am Abend vor dem Wettbewerb um die Auslotung des albernen Anteils in der Poesie. Detering bekannte, morgens unter einem Reimzwang aus verschiedenen Sprachen zu leiden. Rinck erzählte von einer erleichternden Erkenntnis auf dem Weg zum Zigarettenautomaten in der Phase einer Übersetzungsarbeit, in der „durchgereimt“ wurde.
„Haben Ihnen die Gedichte gefallen?“
Seit ich die Diskussionen beim Literarischen März verfolge, also seit dem Jahr 2003, habe ich diese Frage noch nie auf dem Podium der Jury gehört. Nun fing Norbert Hummelt damit an, mehrfach diese Frage zu stellen. Hummelt, der neu in der Jury saß und sich nach zehn Minuten, in denen Sibylle Cramer und Kurt Drawert bereits druckreife Kurzreferate über die Gedichte des ersten Lesenden, Konstantin Ames, abgeliefert hatten, beeindruckt äußerte: „Es setzt ein auf Niveaustufe sieben“. Aber was heißt „gefallen“? Lege ich nicht unterschiedliche Kriterien an, je nachdem, ob ich Gedichte als Lyrikkonsumentin oder als Lyrikerin lese oder als Mitglied einer Jury? Als Test schlägt Hummelt vor, sich zu fragen, was bleibt, wenn ich das Gedicht nicht mehr in der Hand habe. Ein Plädoyer für Gedichte mit starken eingängigen Bildern und spürbarem lyrischen Ich? Nicht unbedingt, wie der Verlauf des Tages zeigte.
David Krause liest. Im Bild von links nach rechts:
Marion Poschmann, Insa Wilke, Kurt Drawert, Jan Koneffke
„und das papier das uns hält / wird wellen schlagen“ (David Krause)
David Krause, Jahrgang 1988 und jüngster Teilnehmer des Wettbewerbs, trug bildreiche Gedichte vor, kleine Zyklen, zunächst „bilder vom wind und vom fluss“, deren erstes Gedicht mit dem Titel „wolken“ von der Auflösung der Bilder der Kindheit erzählt, und dadurch Bilder entstehen lässt, und so endet: „es gibt mich / den schal um den hals / einen soldaten in der hand / nicht mehr / den fluss; nur sein bett; es gibt / mir einen ort; es gibt / mir einen ort.“ Das letzte Gedicht des Wettbewerbsbeitrags, [yesterdays], hat Krause seinem Lehrmeister Rolf Dieter Brinkmann gewidmet. Sibylle Cramer ist „überzeugt, dass sich hier ein Werk ankündigt“ und dass Krause mit [yesterdays] seinen Lehrmeister schon hinter sich gelassen hat. Kurt Drawert sieht in den Gedichten die Sehnsucht nach dem Aufgenommen-Werden in der sozialen Welt und der Natur. Das Hervorholen von Erinnerungen und deren Vergänglichkeit hat Krause sehr bewegend umgesetzt. Dass er dabei ein „hohes ästhetisches Risiko eingeht“, wie es in der Jurybegründung heißt, erschließt sich mir jedoch nicht.
„etwas, das n ankommt“ (Özlem Özgül Dündar)
Die Gedichte von Özlem Özgül Dündar sind äußerlich an ihrem schmalen Blocksatz, von der Breite einer Zeitungsspalte, zu erkennen. Damit stellen sie auch äußerlich das Eingesperrtsein der Sprache und des Lyrischen Ich dar. Die Texte zeigen sehr anschaulich den Zusammenhang von Sprache, Sprechen, Körper und sozialem Verhalten. Die Worte „nicht“ sowie „und“ werden abgekürzt durch die Buchstaben „n“ und „u“, wobei Dündar bei ihrem Vortrag auch nur die Buchstaben gesprochen hat. Die Jury wertete Dündars Gedichte als „humanitären Appell“.
„Die Wälder sind tief / keiner geht darin / ohne Grund“ (Anja Kampmann)
Jan Konnefke bezeichnete Anja Kampmanns Gedichte als „poetische Landschaftsvermessung“, auch als „Gedächtnislandschaften“, und als „sehr sehr gelungen“. Kurt Drawert sprach von Welterfahrung und Weltentfaltung von einer nachvollziehbaren subjektiven Perspektive aus, es sei „große Poesie“. Norbert Hummelt stimmte diesem Enthusiasmus nicht zu. Er fand, es würde etwas hineingeheimnist, dem er nicht traue. In der Jurybegründung wurden die Gedichte als „Grenzgang zwischen Anschaulichem und Unanschaulichem, Raum und Zeit“ beschrieben. Mich haben diese Gedichte überwiegend beeindruckt.
„warum / kann ich nicht im wagen bleiben“ (Sibylla Vričić Hausmann)
Sibylla Vričić Hausmann legte mit ihren Gedichten Szenen einer Kindheit vor, die von der Jury mit viel Respekt und Achtung besprochen wurden. Die Gedichte würden beim häufigen Lesen immer besser, so Norbert Hummelt. „Die Bilder bleiben haften“, sagte Marion Poschmann. Kurt Drawert äußerte, er hätte keine Widerstände, er könne den Gedichten glauben. Sie wollten nicht mehr sein als das, was sie sagten.
Konstantin Ames |
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Juror Kurt Drawert |
„wie gleichgültig mir ist, was Válery und W.H. / Auden über Gedichte wussten“ (Konstantin Ames)
Konstantin Ames war einer der Lyriker, zu deren Arbeiten die Jury keinen Bezug aufbauen konnte. Sibylle Cramer fehlte der rationale Zusammenhang, die Geschichte. Sie sah Rimbaud als Lehrmeister, vermisste in den Gedichten aber die Überwindung des Meisters. Kurt Drawert merkte an, die Bilder seien so hart aneinander gesetzt, dass seine Assoziationsfähigkeit überfordert sei. Jan Koneffke stellte sich die Frage nach der Sprechhaltung und nach dem ästhetischen Mehrwert. Marion Poschmann sah in den Gedichten ein tagebuchartiges Spiel mit dem Genieprinzip. Ich war beim Zuhören erstaunt und beim Nachlesen mochte ich immer noch den Humor in diesen Gedichten, die ich in der Tradition der Language Poetry eines Michael Palmer und eines Clark Coolidge sehe (zu finden zum Beispiel im „Atlas der neuen Poesie“, herausgegeben von Joachim Sartorius). In der Language Poetry geht es „nicht um die konkrete Wirklichkeit, sondern um Wirklichkeit im allgemeinen und zwar darum, wie sie in der Sprache erst Gestalt gewinnt.“ (…) Das Language-Gedicht „ist ein dekonstruierter Text, dem seine ursprüngliche Bedeutung genommen oder schon gar nicht erst mitgegeben wird.“ Der Leser soll dem Text eine Bedeutung geben. (Franz Link, Make It New. US-amerikanische Lyrik des 20. Jahrhunderts, Ferdinand Schöningh, Paderborn u.a., 1996, S. 682).
Norbert Hummelt |
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Sibylle Cramer |
„und die geltung jener schatten / leicht wie licht“ (Levin Westermann)
Levin Westermann trat zum dritten Mal beim Literarischen März an, konnte aber leider nur Teile der Jury von seinem Zyklus „Tschechow: eine Reise in zehn Teilen“ überzeugen. Norbert Hummelt mochte den Text auf einer suggestiven Ebene und schätzte den Rhythmus. Jan Koneffke interpretierte den Zyklus als gelungene Reise ins Innere der Krankheit und der Existenz. Kurt Drawert fehlte es an einer sinnlichen Umsetzung eines großen Gebäudes, das er irgendwo ahnte. Sibylle Cramer war davon überzeugt, dass der Text nicht ernst genommen werden wolle, unter anderem deshalb, weil vom historischen Tschechow niemals Röntgenbilder gemacht wurden, im Zyklus aber von Röntgenbildern die Rede war. Mich beeindruckt diese Arbeit, in der auch Kassandra und Teiresias auftreten. In diesem Wettbewerbsbeitrag sehe ich das höchste ästhetische Risiko. Und acht Definitionen von Zeit. Zum Beispiel diese: „und die zeit ist ein zug, der entgleist.“
Die Jury: Norbert Hummelt, Sibylle Cramer, Marion Poschmann,
Insa Wilke (Mod.), Kurt Drawert, Jan Koneffke
Die Gedichte und sonstige Materialien können noch auf der Website des Literarischen März unter der Rubrik „Pressematerial“ heruntergeladen werden. Im Herbst erscheinen die Gedichte in einer Anthologie im Verlag Brandes & Apsel, herausgegeben von den Mitgliedern der Vorjury Fritz Deppert, Christian Döring und Hanne F. Juritz.
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Martina Weber
Lyrik
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