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Kurt Drawert

Gespräch mit Martina Weber für den poetenladen
»Was gut oder schlecht ist, entscheidet sich im Diskurs«
  Gespräch

Foto: Ute Döring
  Literatur und Wettbewerb lautet das Gesprächsthema der 20. poet-Ausgabe: Welchen Nutzen hat das öffentliche Wettlesen, wie verlässlich sind Juryurteile, werden Autoren durch das Wettbewerbswesen zu Konkurrenten erzogen?

Das Thema hat viele Facetten: Fünf Gespräche in der 20. Ausgabe des poet-Magazins geben Auskunft.

poet nr. 20  +externer Link
poetenladen, Frühjahr 2016
Kurt Drawert wurde 1956 in Henningsdorf /?Brandenburg geboren und lebt seit 1996 in Darmstadt. Im Jahr 1997 gründete er die Darmstädter Text­werkstatt, im Jahr 2004 das Zentrum für junge Literatur. Von 1994 bis 2004 war er Mitglied der Jury des Lyrik­preises Meran, seit 2003 ist er Jury­mit­glied beim Lite­rari­schen März. Ver­öffent­li­chun­gen von Lyrik, Prosa, Dramatik und Essays sowie Heraus­gaben. Zahl­reiche Aus­zeich­nungen, darunter Leonce-und-Lena-Preis, Lyrik­preis Meran, Inge­borg-Bach­mann-Preis, Rainer-Malkowski-Preis, Robert-Gernhardt-Preis.


 

Martina Weber: In einem Interview im Deutschlandfunk am 9. November 2001 sagte Kazuo Ishiguro Folgendes zur Entstehung von Kunst und zum Verhältnis eines Kunstwerkes zum Rezipienten: »Irgendwann zerbricht etwas, bei jedem Menschen, und eine Wunde bleibt. Und mir will es so vorkommen, als sei dies der exakte Grund dafür, warum Bücher geschrieben, Bilder gemalt, Musikstücke komponiert werden. Es ist Ausdruck einer Verwundung. Ich glaube, wir schätzen den Wert von Kunstwerken umso höher, wenn wir die Wunde des Künstlers in uns selbst spüren und erkennen.« So beginnt dieses Gespräch zum Thema »Literatur und Wettbewerb« mit einem erfreulichen Gedanken, nämlich dem, dass Literatur zu schreiben und Literatur zu lesen ein Refugium der Persönlichkeit ist, eine komplexe Beziehung zwischen dem Autor und seinem Text und dem Lesenden, ein individueller Vorgang, der mit einem Wettbewerbsgedanken zunächst überhaupt nichts zu tun hat.

 

Kurt Drawert: Natürlich gibt es für Literatur keine sinnvolle Verbindung von Entstehungsgeschichte und Wettbewerbswesen. Auch mit der »Verwundung« ist es ebenso, oder, kürzer und mit Brecht gesprochen: »etwas fehlt«. Mein verstorbener Freund Adolf Endler berief sich immer auf einen Unfall in der Fabrik, durch den er zum Gedichtschreiben kam. Ein Brett war ihm auf den Kopf gefallen, und danach dachte er nur noch in Versen. Eine Klage beim Betriebsrat wurde abgewiesen, eine Entschädigung bekam er meines Wissens nie. So ist das mit uns. Überall Ausfall. Aber es muss ja nicht immer so tragisch enden wie bei Endler, den wir liebevoll Eddi nannten. Literatur birgt eine unauflösbare Gegensätzlichkeit in sich. Zum einen ist sie ein Symbolisierungsprozess des Subjekts, das sich einen Standort erobert, von dem aus es sich selbst denken kann, zum anderen ein Objekt, das als Ware unter Waren zirkuliert. Das ist so grundverschieden wie Sex aus Liebe oder um damit Geld zu verdienen. Die Körper bewegen sich zwar in gleicher Weise, aber sie sind nicht gleichermaßen belebt. Im Grunde lässt sich nur über eine dieser Sphären reden, erstens, was ist Literatur, warum ist sie, was macht sie aus und so weiter, oder zweitens: wie kann ich sie wirtschaftlich nutzen, eine Existenz darauf gründen und sie so unter die Leute bringen, dass noch die Stromrechnung für mich selbst dabei abfällt. Das sind zwei verschiedene Betrachtungsanlässe. Die Idee des Wettbewerbs liegt vielleicht irgendwo dazwischen, denn er soll ja auch eine Qualität markieren, etwas positiv herausheben, was substanziell vorhanden und im Innenraum der Texte eingewebt ist. Von sich etwas behaupten kann jeder, er muss es auch leisten können. Die Bedeutung liegt immer auf dem Feld des anderen. Der Sinn des Wettbewerbes ist so gesehen also auch noch nicht, was sein Sinn anscheinend ist, nämlich jemanden zu bevorzugen, ihn mit einem Preis auszustatten, seinen Namen zu einem Namen zu machen. Sein Sinn ist die Verifikation, die Bestätigung, etwas verstanden zu haben, und das ist durchaus noch etwas anderes und wesentlich mehr. Von mir aus könnten immer alle gewinnen, wenn alle gleichermaßen überzeugend waren. Aber dann wäre der Effekt natürlich auch kein Effekt mehr. So bindet sich das Zeichen »Erster Preis« an die Bedeutung von »wertvoll«, und das ist dann sein Sinn. Nicht selten folgt ja eben deshalb dem einen Preis noch ein zweiter oder dritter, nicht weil andere andernorts unbedingt derselben Ansicht waren, sondern weil sie gar keiner Ansicht mehr sein müssen und sich trotzdem nicht blamieren. Es reicht, sich des Paradigmas der Zeichenverknüpfung zu bedienen, das gerade so erfolgreich herausgebildet wurde. Bei einem Abendessen macht es sich dann immer gut, einen Gast dabei zu haben, von dem man nicht sagen muss: der schreibt gute Gedichte oder dergleichen – was in der Regel ja auch keinen der Anwesenden tatsächlich interessiert –, sondern: er hat ge­rade den oder jenen wirklich sehr bedeutenden Preis bekommen, und dann folgt der Applaus. Die Symbole verselbstständigen sich, werden irreduzibel. Und das alles sage ich ohne moralische Wertung. Es ist ein Phänomen des Signifikanten. Inhalte spielen dabei keine Rolle mehr. Aber sie haben einmal eine gespielt, in der Vorgeschichte, die zum Erfolg geführt hat, und darauf kommt es an. Das auch gehört zur Leistung, die eine Jury übernimmt: Bedeutungen zu produzieren und sie später auch zu verantworten. Alles das ist eine Handlungsgeschichte, die keiner unterschätzen darf. Ohne sie wäre nichts.

 

M. Weber: In deinem Buch Schreiben. Vom Leben der Texte skizzierst du zu Beginn der sechsten Lesung den Prozess der Literaturbildung folgendermaßen: »Qualität muss ›verhandelt‹ werden, sie unterliegt einer Abstimmung, die imaginär bleibt und nicht zu beweisen ist. Abstimmberechtigt ist die jeweils lesende Gesellschaft, die sich einen Konsens darüber verschafft, was sie als Wert anerkennen will; im Wert spiegelt sie sich selbst; er ist Präsentation und Repräsentation in einem. Dieser Konsens wird über die Eliten gebildet und schließt Vorerfahrungen, Konventionen, Ressentiments ebenso ein wie die Erwartung auf das ›unerhört Neue‹, das oft wie ein Blitz ist, der immer nur einmal trifft.« Und dann schreibst du sinngemäß, dass es darum geht, den Wert eines Werkes über Generationen hinweg zu vermitteln. Könntest du deinen Gedanken, dass die Abstimmung über die Qualität imaginär bleibt und nicht zu beweisen ist, etwas erläutern?

 

K. Drawert: Vielleicht ist das Wort »imaginär« in diesem Zusammenhang etwas unscharf, denn es handelt sich ja durchaus um Verhandlungs- und Vermittlungsprozesse in der Aneignung ästhetischer Objekte, die transparent sind, beobachtet und beschrieben werden können. Die Kritiken zu einem Buch oder Laudationen zu einem Preis können wir ja lesen und hören, die Techniken des Aufbewahrens und Verbreitens mitverfolgen und so weiter und so fort. Mit »imaginär« meine ich vielmehr die Unmöglichkeit, alle Faktoren primärer und sekundärer Art in ihrer komplexen Wechselwirkung zusammenzufassen, die ganze Maschine zu sehen und nicht nur ein paar kausal ineinandergreifende Elemente. »Abstimmung« ist demnach eine Metapher und kein Vorgang in einer Demokratie, und sie meint eben auch die Dispositive, die oft im Verborgenen bleiben, kontingent sind. Warum etwas wirkt, lässt sich immer erst sagen, wenn es die Wirkung schon geleistet hat. Wenn etwas wirken soll, kann ich zwar vieles dafür tun – aber es wirkt immer nach einem anderen, nicht mehr zu kontrollierenden Gesetz. Man kann es die Immanenz der Freiheit nennen. Das klingt gut, finde ich. Wäre es anders, wäre es furchtbar. Dann hätten wir es tatsächlich nur noch mit Machwerken zu tun, mit den Dubletten einer Absicht.

 

M. Weber: Du schreibst, der Konsens darüber, was als Wert anerkannt wird, wird über die Eliten gebildet. Welche Rolle spielen beim Prozess der Literaturbildung eigentlich die gewöhnlichen Leserinnen und Leser?

 

K. Drawert: Was, bitte, ist ein »gewöhnlicher Leser«? Oder wann hört er auf, »gewöhnlich« zu sein? Ich weiß das gerade nicht. In einem Brief vom 10. April 1917 schreibt ein gewisser Herr Dr. Siegfried Wolff an Franz Kafka:

Sehr geehrter Herr, Sie haben mich unglücklich gemacht. Ich habe Ihre Verwandlung gekauft und meiner Kusine geschenkt. Die weiß sich die Geschichte aber nicht zu erklären. Meine Kusine hats ihrer Mutter gegeben, die weiß auch keine Erklärung. Die Mutter hat das Buch meiner anderen Kusine gegeben und die hat auch keine Erklärung. Nun haben sie an mich geschrieben. Weil ich der Doctor der Familie wäre. Aber ich bin ratlos. Herr! Ich habe Monate hindurch im Schützengraben mich mit dem Russen herumgehauen und nicht mit der Wimper gezuckt. Wenn aber mein Renommee bei meinen Kusinen zum Teufel ginge, das ertrüge ich nicht. Nur Sie können mir helfen. Sie müssen es; denn Sie haben mir die Suppe eingebrockt. Also bitte sagen Sie mir, was meine Kusine sich bei der Verwandlung zu denken hat.

Dieser Brief rührt mich an, denn der Mann kann beim besten Willen diesen Text nicht deuten. Ist er deshalb nun ein »gewöhnlicher Leser«? Oder müsste man nicht besser sagen: er ist gar kein Leser? Und der Verleger dieser Erzählung, der großartige Kurt Wolff in Leipzig, war er, antonymisch gedacht, nun ein »elitärer Leser«? Hat er mehr verstanden als sein Namensvetter im Brief? Oder war er einfach nur mutig im Umgang mit dem Unverständlichen? Heute ist Kafka in aller Munde, und seine »Verwandlung« gehört zum Kanon der Weltliteratur. Nicht der Text hat sich verändert, sondern die Kompetenzen des Lesens sind differenzierter geworden. Dafür zuständig sind immer nur Einzelne. Ehe sich etwas Neues durchsetzen kann, muss es Eliten passieren, die es aufgreifen und vermitteln können. Das gehört durchaus in ein System der Arbeitsteilung, dass es Leute gibt, die bezahlt dafür werden zu lesen und zu interpretieren. Die Interpretation ist eine Leistung, eine zweite Form der Schöpfung, und dafür muss einer ausgebildet sein. Die Diktatur von unten, wie wir sie im Internet erleben, wo jeder seine Meinung sagen und in primitiver Verkürzung auch in Umlauf bringen kann, ist reiner Positivismus. Mit »Gefällt-mir-Buttons« lässt sich die Welt weder ordnen noch verstehen. Vielmehr produzieren sie das schon Produzierte noch einmal und wirken präkonditional. Mit ihnen hätten wir heute auch keinen Kafka und so weiter und eben so, weil der Herr Dr. Wolff seinen Verstörungsbrief im Internet vertausendfacht hätte mit allen Folgen seiner nur im Einzelfall charmanten Naivität. Je komplexer die Systeme sind – und ich meine jetzt nicht mehr lediglich die der Literatur –, desto differenzierter müssen die Prozesse der Reflexion und Erkenntnisfindung werden. Eine Herzoperation will ich ja auch nicht von meinem Zahnarzt ausgeführt haben. Das hat mit Elitarismus noch gar nichts zu tun, sondern mit Fachwissen und Kompetenz. Sobald es um Kunst und Kultur geht, denken viele, sie könnten jederzeit einsteigen und mitmischen, weil es keine festen Taxonomien gibt. Genau das aber entwertet die Werte. Das Einfache bzw. das als einfach zu Verstehende war immer erst kompliziert, ehe es jeder oder eben doch eine Masse verstand. Wobei in der Literatur der Begriff des Verstehens das Unverständliche inkludiert und nicht ausgrenzt, wie in der Wissenschaft oder der Ökonomie. Aber das führt uns jetzt auf ein ganz anderes Feld.

 

M. Weber: Beim Qualitätsausleseprozess geht es nicht nur um eine ideelle Anerkennung, sondern es geht – ganz besonders in der Lyrik – bei der Vergabe von Literaturpreisen und Stipendien auch um die Verteilung von Geldern und damit finanziellen Mitteln, die es einer Autorin / einem Autor mitermöglichen, sich eine Zeitlang weiter auf das Schreiben zu konzentrieren oder auch darum, weiter in der Künstlersozialversicherung mit ihren günstigen Konditionen versichert zu bleiben und den dafür erforderlichen Gewinn in Höhe von mindestens 3.900 Euro jährlich durch eine KSK-versicherungspflichtige Arbeit zu erzielen. Wir haben also grundsätzlich eine sehr interessante, vielfältige Lyrikszene (ich konzentriere mich auf die Lyrik, weil ich die Prosa nicht beobachte), aber die meisten Dichterinnen und Dichter verdienen mit ihrer Arbeit nur ein Taschengeld, wenn überhaupt. Der Herausgeber des Jahrbuchs der Lyrik, Christoph Buchwald, schrieb vor Jahren im Einladungstext, Lyrik sei derart unbezahlbar, dass sich der Verlag entschlossen habe, statt eines sowieso nur symbolischen Honorars von 10 Euro pro Gedicht gar kein Geld mehr zu bezahlen. Das Verhältnis von Gedichten zu Geld ist gnadenlos. Mir fällt gerade keine Tätigkeit ein, bei der der zeitliche und geistige Aufwand in einem derartigen Missverhältnis zum Honorar steht. In einem Wettbewerb um finanziell lukrative Tätigkeiten wäre das Schreiben von Gedichten wahrscheinlich bei den untersten Rängen zu finden. In deinem Gedichtband Frühjahrskollektion gibt es sogar ein Kapitel mit der Überschrift Geld & Gedichte. In einem Wettbewerb um ein allgemeines gesellschaftliches Prestige würde die Lyrik auch nicht so super abschneiden: Als ich vor einiger Zeit einmal ganz mutig einer Friseurin auf ihre Frage nach meiner Arbeit sagte, ich würde Gedichte schreiben, sagte sie, jetzt hätte ich aber bei ihr ganz viel an Ansehen verloren. Und das passiert nicht nur beim Friseur.

 

K. Drawert: Ich weiß nicht, ob ich von meinem Friseur Verständnis für meine Gedichte und meine soziale Rolle als Autor erwarte. So reich werden Friseure ja nun auch wieder nicht, dass sie es sich leisten könnten, über andere Arbeiter die Nase zu rümpfen. Dass Zeit gleich Geld ist, ist seit Benjamin Franklin, der es schon 1748 sagte, auch keine Geheimsache mehr. Und der Herr Buchwald, nun ja, also ich fürchte, er sah den Wald vor lauter Büchern nicht, als er diese zynische Bemerkung verlor wie andere ihren Verstand. Man stelle sich einmal vor, Unseld hätte seinerzeit, als er bei ihm als möglicher Nachfolger reüssierte, gesagt: »Verehrter Herr Buchwald, wissen Sie, Sie sind ein derart kompetenter, kluger und mit allen Wassern der Betriebskantine gewaschener Lektor, es beschämt mich zutiefst, Sie mit etwas so Gewöhnlichem wie Geld zu entlohnen. Ich dachte mir, vielleicht ein Freiexemplar von jedem neuen Titel des Suhrkamp-Verlages?« Ich glaube, darüber hätte er nun gerade nicht gelacht. Was mich betrifft, ich meine mich jetzt als einen primären Wirtschaftsfaktor für meine Familie, so verdiene ich mit Gedichten recht gut. Bei einer Auflage von etwa eintausend pro Band kommen keine Schulden zustande. Und mein Verlag überweist wirklich alles, Summen respektive, die unter dem Wert einer Briefmarke liegen. Geld zu haben ist sehr anstrengend, finde ich, belastend, irgendwie uncool. Fast so schlimm, wie keines zu haben. Aber kurz doch etwas ernster: mich nervt diese Frage unendlich, weil man natürlich sofort an Gottfried Benn denkt und weiß, dass alle es wissen und dass sich daran doch nie etwas ändert. Ich fühlte mich früher immer sehr allein gelassen, wenn ich so etwas Peinliches wie Geld überhaupt zu einem Thema werden ließ. Denn natürlich stinkt Geld, das weiß ja jeder, weil es die symbolische Ausscheidung aus einem Produktionsprozess ist, sein Abfall sozusagen. Aber dass es einen Wertzusammenhang von Lohn, Entlohnung und Leistung nun einmal gibt, das ist ja keine private Erfindung – und da sind wir naturgemäß die Deppen vom Dienst. Übrigens gibt es dazu einen grandiosen Essay von Gerhard Falkner, der vom »Unwert des Gedichtes« spricht, und das schon in den 1980er Jahren. Andererseits leben wir in Deutschland in einer Weise als Autoren gut, übertroffen vielleicht nur noch von Kollegen in Österreich und der Schweiz, dass jede Klage im Grunde auch etwas unanständig klingt. Ich meine, wir befinden uns in einem radikalen Utilitarismus, da wundert es gelegentlich, überhaupt noch da zu sein. Und vergessen wir nicht, dass es, und gerade bei uns, ein Fördersystem für Literatur gibt, das einzigartig ist auf der Welt. Die soziale Kränkung, durch Nichtbezahlung der Ware auf seine Überflüssigkeit im Kontext der Ökonomie andauernd hingewiesen zu werden, wiegt natürlich sehr schwer. Und dann kommt noch etwas hinzu: die Illusion einer exterritorialen Lebensform als Alternative zum puritanischen Funktionalismus. Manche übernehmen diese Rolle ganz gern und ziehen sich alte Klamotten an, wenn sie zu Lesungen gehen. Mich widert es an.

 

M. Weber: In der Lyrikszene wird die Vergabe von Literaturpreisen sehr genau beobachtet und bewertet. Dies hängt sicherlich auch damit zusammen, dass es gar nicht so viele nationale oder internationale Lyrikpreise gibt, auf die man sich bewerben kann. Da sind eigentlich nur der Open Mike (für Lyrik und Prosa) und der Literarische März in Darmstadt für die bis 35-Jährigen, und ansonsten der Lyrikpreis Meran und der Dresdner Lyrikpreis, der Münchner Lyrikpreis, der Mondseer Lyrikpreis und der Feldkirch Lyrikpreis. Nur in Meran und Darmstadt diskutiert die Jury öffentlich über die Gedichte. Das Phänomen, dass sich die Kandidatinnen und Kandidaten, die bei einem Wettbewerb ohne Preis bleiben, fragen, warum gerade die oder der einen Preis erhalten hat, ist alt. Beim Literarischen März des Jahres 2015 wurden die Jurydiskussionen erstmals als Tondokumente aufgezeichnet und in Form von Audiodateien auf der Homepage des Literarischen März öffentlich gemacht. Dies hat in Lyrikkreisen und in sozialen Netzwerken wie Facebook zu heftigen Diskussionen geführt, die ich selbst nicht verfolgt habe, da ich kein Facebook-Account habe, von denen mir aber erzählt wurde. Hier wurden die Diskussionsbeiträge der Jury, deren Mitglied du auch warst, zum Gegenstand der Kritik.

 

K. Drawert: Du sagst »nur«? Das sind doch viele Preise für Lyrik. Wo in der Welt gibt es das überhaupt. Etwas anderes ist die elektronische Verfügbarkeit der Diskussionen, wie sie in Darmstadt zum zweiten Mal, nämlich auch schon 2013, vorgenommen wurden. Ich bin hier nämlich gar nicht der Ansicht, dass die Jury einem online gestellten Mitschnitt aller Redebeiträge weiterhin zustimmen sollte und behalte mir ein weiteres Mitwirken unter diesen Umständen auch noch vor. Allein nach der letzten Auflage des Wettbewerbes habe ich so viele Verwünschungs- und Verleumdungsnachrichten erhalten, meistens verlinkt, weil ich mich in den unzählig vielen diversen Netzwerken selbst gar nicht zurechtfinden würde, dass ich mich fragte, warum man sich das eigentlich zumuten soll. Ein höchstfälliges Schmerzensgeld gibt es dafür ja auch nicht. Nun kann man das natürlich sofort und am besten ungelesen löschen, allein die Verwerfung ist schon ein Akt der Auseinandersetzung, der Zeit, Kraft und Nerven kostet. Die Arbeit also, die am selben Abend nach anstrengenden Diskussionen dann tatsächlich auch beendet sein sollte, setzt sich unendlich fort, und das in zum Teil rüder, kaum mehr sinnvoll zu kommunizierender Weise. Nun haben wir das Internet nicht erfunden und können wenig ausrichten dagegen, dass es einen gehörigen Negativeffekt freisetzt. Aber wo er schon absehbar ist, lässt er sich auch vermeiden. Das für uns Verheerende daran nämlich ist, dass ein prozessualer Gesprächsverlauf, rein performativ und vorläufig, in der intermedialen Kopie zitierbar wird und damit den Status schriftsprachlicher Meinungssicherheit einnimmt. Zitate werden entkontextuiert und so neu zusammengesetzt, dass ihr Sinn verlorengeht. Mir ist bekannt, dass einzelne Redebeiträge herausgeschnitten und isoliert versendet werden konnten, kurz, wir landen auf dem digitalen Friedhof einer Endlosschleife, nicht mehr zu korrigieren, nicht mehr zu löschen, unsterblich im Irrtum. Das öffentliche Gespräch über Lyrik – und über oft ja auch zukünftige Kollegen – ist in sich schon sehr fragil und riskant. Wir nähern uns allenfalls einer Textwahrheit an, die in sich selbst ihren Grund hat und ihr Gesetz und der gegenüber es nur Annäherungen, Ahnungen, Vermutungen gibt. Das schließt Irritationen, Fehlurteile, Verständnisdefekte selbstredend ein, und ohne diese Leerstellen der Rezeption ließen sich die Diskurse überhaupt nicht führen. Das nun braucht auch einen Schutzraum vor einem Außen, das nicht selten inquisitorisch reagiert – oder die Kritik nimmt einen anderen, nicht mehr freien Verlauf. In Klagenfurt sehen wir ja, wo es hinführt und wie das Medium die Texte verändert. Aber dort gibt es zumindest das ganze Bild, also auch die präverbale Substanz einer Rede, ihre Form, die relativierend auf ihren Inhalt zurückwirkt oder ihn gar neutralisiert. Bei Agamben finde ich gerade einige Sätze, die ich hier gern zitieren möchte, weil sie sehr zutreffend sind: »Vor diesem Hintergrund [der negativen Effekte] erscheinen die wohlmeinenden Reden über die Technik, die behaupten, dass sich das Problem der Dispositive auf die Frage ihres richtigen Gebrauchs reduzieren lasse, in ihrer ganzen Vergeblichkeit. Offensichtlich ignorieren sie, dass jedem Dispositiv ein bestimmter Prozess der Subjektivierung (oder, wie in diesem Fall, der Desubjektivierung) entspricht, was es absolut unmöglich macht, dass das Subjekt eines Dispositivs es auf die richtige Weise nutzen kann. Im Übrigen sind diejenigen, die solche Reden führen, ihrerseits ein Resultat des medialen Dispositivs, in dem sie gefangen sind.« (Giorgio Agamben: Was ist ein Dispositiv?, Zürich-Berlin 2008.)

 

M. Weber: Ich möchte noch einen Satz aus deinem Buch Schreiben. Vom Leben der Texte zitieren. Es gibt dort ein Kapitel über Jurys, in dem du schreibst: »Eine Jury, die komplett einer Generation angehört, komplett männlich oder weiblich besetzt ist und komplett eine theoretische Schule vertritt, ist untauglich.« Wie steht es aber mit den persönlichen oder beruflichen Beziehungen von Jurymitgliedern zu den zu bewertenden Kandidatinnen und Kandidaten? Persönliche Freundschaften gehören sicherlich dem privaten Bereich an. Wenn ein Jurymitglied die Arbeit des Kandidaten aber zum Beispiel für eine Publikation lektoriert hat oder als Verleger / Verlegerin veröffentlicht, könnte man darüber nachdenken, ob es einen Befangenheits-Kodex für Jurymitglieder geben sollte, der in einem solchen Fall den Einsatz eines Ersatz-Jurymitglieds vorschreibt.

 

K. Drawert: Wenn es zu einer Situation kommt, wie ich sie im letzten Jahr erlebte, dass gleich zwei Teilnehmer in der Endrunde zum Leonce-und-Lena-Preis aus meiner Textwerkstatt kamen, dann muss man sich naturgemäß ein paar Unterstellungen gefallen lassen. Wer keinen Preis bekommt, sucht ja die Gründe dafür überall, nur eben nicht bei sich selbst, und auch das ist verständlich. Hier nun ist es schade, dass die Diskussionen innerhalb der Jury um die Vergabe der Preise nicht auch veröffentlicht werden. Dann nämlich könnte jeder mitverfolgen, wie sachlich und argumentativ genau es um die Texte und um nichts anderes geht. Die Mitjuroren wussten gar nicht – oder haben es nicht zur Kenntnis genommen, weil es ihnen völlig unwichtig war –, dass da irgendwer aus meiner Werkstatt kam. Aber wie soll das auch gehen, dass man innerhalb eines sehr engen literarischen Zirkels, wie er im deutschsprachigen Raum existiert, nicht den ein oder anderen eben schon kennt und auch ein wie auch immer emotionales oder gar affektives Verhältnis zu ihm hat? Und es wird doch keiner im Ernst von mir erwarten, dass ich Autorinnen und Autoren, mit denen ich über Jahre hinweg gearbeitet habe, öffentlich desavouiere? Zur Professionalität eben zählt es, die halböffentlichen oder privaten Vorinformationen so gut es geht auszublenden. Sonst könnte ja auch kein Kritiker gute Besprechungen schreiben, denn wie oft kommt es vor, dass man jemanden menschlich sehr mag, als Autor aber ganz unerträglich findet. Und eben deshalb gibt es ja mehrere und höchst verschiedene Stimmen und Betrachtungsweisen, um das alles ein wenig zu objektivieren. Das Problem nun stellt sich ganz prinzipiell dar, wenn Konstative und Performative unablässig gegen­einander ausgespielt werden. Die einen fanden die Texte schlecht, den Vortrag aber schön, die anderen den Vortrag grauenhaft, aber die Texte gut. Es ist wie bei einem Möbiusband, das unendlich Innen und Außen ineinanderfließen lässt, bis man verrückt wird, weil man einen Ausgang gesucht hat. Und ich habe in meinem Buch ja auch davon gesprochen, dass alles zu einem Signifikanten wird, was den Text in seiner Darstellungsweise rhetorisch begleitet. Das fängt bei der Stimme an und hört bei der Kleidung auf. Das sind alles Bedeutungsträger, die sich unbewusst zu einem Wert entfalten, signifizieren, wäre das Fachwort. So kommt es dann ja auch immer wieder vor, dass sich eine Meinung zum Text komplett verändert, sobald er vorgetragen wurde. Profitieren können davon nur jene, deren Poetik phonozentrisch organisiert ist. Die anderen nehmen es mehr oder weniger glücklich in Kauf. Ich finde es furchtbar. Aber das wundert jetzt wahrscheinlich auch keinen mehr. Um es hier mit einem Zitat von Schlegel abzuschließen: »Der Text löscht seine Schriftlichkeit im Augenblick der Rede aus.« So ist es.

 

M. Weber: Ab einem gewissen Grad an Professionalität scheint das Wettbewerbswesen fragwürdig, weil es willkürlich erscheint, wenn, sagen wir, vielleicht zehn Kandidatinnen und Kandidaten von tausend oder zweitausend durch eine Vorjury ausgewählt wurden und es keine auffälligen Qualitätsunterschiede zwischen den Texten gibt. Da stellt sich die Frage, ob es außer der Auslobung von Wettbewerben und der Vergabe von Literaturpreisen andere öffentlichkeitswirksame Formen der Verhandlung der Qualität eines Werkes gibt.

 

K. Drawert: Gäbe es keine auffallenden Qualitätsunterschiede bei tausend oder zweitausend Einsendungen, wäre das schon der neunte Kreis der Hölle. Aber auch dort, wo es durch eine Vorauswahl schon auf zehn oder zwanzig Beiträge reduziert worden ist, gibt es sofort erkennbare Qualitätsunterschiede. Was immer wieder auffällt, ist die hohe Zahl mittelmäßiger, irgendwie nicht ganz schlechter, aber auch nicht zwingender Texte. Sie machen die meiste Arbeit, weil sie tatsächlich arbiträr sind. Aber dann gibt es eben immer auch die guten, interessanten Gedichte oder Prosatexte, die sich sehr schnell abheben vom eben beschriebenen Mittelmaß, und um die geht es letztendlich ja auch. Ich selbst habe es mit Massen an Texten zu tun, die alle etwas von mir wollen. Würde ich nicht auf einer Seite, nein, oft schon in einem Satz erkennen, ob einer gut oder überhaupt schreiben kann, würde ich mein Pensum niemals erfüllen. Und zweitens, das sagten wir auch schon, ist das Wettbewerbswesen natürlich fragwürdig, was soll es denn sonst sein. Aber ein anderes haben wir nicht, und die Gefahr einer Beliebigkeit ist nur schwer ganz zu vermeiden. Es wird einfach zu viel, und leider auch zu viel Blödsinniges, geschrieben. Wer, in Gottes Namen, soll das denn alles noch lesen und zur Kenntnis nehmen? Unsere Kultur ist erschöpft, weil sie es fast nur noch mit Kopien und Plagiaten zu tun hat. Das hochgelobte Internet, das zu kritisieren dem Schlachten einer heiligen Kuh gleichkommt, sorgt ganz gewiss für eine sukzessive Entwertung allein schon dadurch, dass es unendlich viel wiederholt. Die Verknüpfung mit dem Unendlichen aber zerstört jeden Sinn. Es ist wie ein Bild, das keinen Rahmen im Sinne einer Begrenzung mehr hat und sein Verweisungssystem an einem nächsten und wiederum nächsten verliert. Und Gerechtigkeit in der Kunst gibt es keine. Wie auch. Der Satz Mallarmés, jeder kann ein Dichter werden, war immer schon falsch und hat für falsche Interpretationen gesorgt. Und noch eine Bemerkung zu deinem doch recht selbstsicheren Qualitätsverständnis: gäbe es eine feste Taxonomie für Literatur und Kunst, müssten wir überhaupt keine Jurys und Wettbewerbe und alles so etwas mehr haben. Was gut oder schlecht ist, entscheidet sich im Diskurs. Qualität ist ein kultureller Effekt und keine Universalie. Deshalb ist es eben auch so schwer, sie zu behaupten. In meinem Buch, aus dem du schon zitiert hast, habe ich ja davon gesprochen, dass es einen Literaturbildungsprozess gibt, der sehr komplex ist und zeitlich im Grunde auch unbegrenzt, weil jede neue lesende Gemeinschaft etwas neu bewerten und anerkennen muss. Wir sind da nichts als sehr kleine Wesen. Zumal die Gutenberg-Galaxie ja gerade im Ausverkauf steht, und was dem folgen wird, kann noch niemand wissen. Gutes ist schwer zu erwarten.

 

M. Weber: Vielen Dank, lieber Kurt, dass du dir so viel Zeit für unser Gespräch genommen hast.
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