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Alexej Krutschonych

Phonetik des Theaters

Endlich

Ein persönlicher Bericht angesichts der
Phonetik des Theaters
von Alexej Krutschonych
herausgegeben von Valeri Scherstjanoi

Ein persönlicher Bericht
  Alexej Krutschonych
Phonetik des Theaters
Herausgegeben von Valeri Scherstjanoi
Reinecke & Voß 2011
10 Euro, Taschenbuch

Zum Verlag  externer Link



Der ganze Futurismus wäre ein unnötiges Unternehmen,
wäre er nicht zur sa-umnischen Sprache gekommen ...
Igor Terentjew

Es ging ein Gespenst herum in Europa, zumindest hab ich das lange Jahre so empfunden. Es war das Gespenst des Futurismus. Und in meiner Jugend, also die Achtzigerjahre des ver­gangenen Jahr­hunderts hindurch, wollte ich Futurist sein wie in meiner Kindheit Indianer.
  Angefangen hatte alles natürlich mit Majakowski und seinen Text­kaskaden. Tok, tok, tok. Gelbes Hemd las ich, kahl­rasierter Schädel. Dröhnende Stimme. Zugänglich zu­nächst in den Über­setzungen von Hugo Huppert, denn unser Schul­russisch ver­schloss sich der Poesie. Die zwei drei rus­sischen Gedichte die ich in den über­langen Jahren der Schul­pflicht zu lernen hatte, waren eher politische Slogans, der Wirkung halber gereimt. Der Feind­schaft Steg / steht uns im Weg, hieß es da. Kein Majakowski und auch kein anderer Futurist. Chlebnikow oder Krutschonych schon gar nicht. Später, also heute mehr oder weniger, sollte es sich als Vorteil heraus­stellen, wenigs­tens die kyril­lische Schrift ent­ziffern zu können. Es ist ein herr­liches Gefühl, sa-umnische Texte wie das „Gedröhn des Kaukasus“ im Origi­nal lesen zu können. Aller­dings muss man auch sagen, dass der Weg Scherstjanois, sie in Lautschrift zu über­setzen, auch einiges für sich hat und dem Leser, der in der Schule nicht mit kyrillischen Schrift­zeichen gequält wurde, einen Weg in die Texte öffnet.
  Zunächst jedoch befinden wir uns noch in einem verschriftlichen Zeitalter. Und so war es eben Majakowski, der mir auf gewisse Weise präsent war, vor allem, weil Eisler einige Huppertsche Über­setzungen vertont hatte, und ich im Platten­schrank meines Magde­burger Lieb­lings­onkels Aufnahmen fand, auf denen Ernst Busch sie vortrug. Sang der Gesänge heb dich zur Sonne.
  Mich beein­druckte der Majakowskische Pathos, diese Begrüßung des Kom­munis­mus als Rettung. Wenn man sich umsah, in der DDR hatte man auch das Gefühl, dass Rettung hier unbedingt not­tut. So kam ich auf den Gedanken, natürlich ganz privat und ganz heimlich, einen Neo­futurismus Maja­kows­kischer Prägung auszurufen. Das war am Anfang der zwei­ten Hälfte der Acht­ziger­jahre, und Gorbat­schow hatte schon ange­fangen, ein neues und vielleicht besseres Lied zu singen. Gesell­schaft­liche Umbrüche deuteten sich an. Zunächst in Polen, und auch in der Sowjet­union, im Osten Deutsch­lands schienen wir noch weit davon entfernt. Aber wie ein Grollen aus weiter Ferne drangen Namen über die Grenzen, die etwas mit Majakowski, die etwas mit Futurismus zu tun haben könnten. Und Majakowski selbst war ja schon ein schräger Vogel gewesen, dachte ich, was würde da noch alles auf uns zukommen, wenn wir auch Chlebnikow und Krutschonych habhaft würden. Aber zunächst geis­terte der russische Futu­rismus immer noch als Gespenst durch meinen Kopf.
  Bei einem studentischen Ernteeinsatz im September 1987 sollte ich die werk­tätigen Bäue­rin­nen und Bauern einer mecklen­burger Pro­duktions­genossen­schaft beim Kampf um die Kar­toffel unter­stützen. Ernte­schlacht. Eine Riesen­halle und Förder­bänder mit denen Kartof­feln trans­portiert wurden. Von den Bändern rieselte der Dreck, den ich mit einer Schaufel und einem Straßen­besen zu besei­tigen hatte. Jetzt, dachte ich, jetzt schlägt die Stunde des Neo­futuris­mus, nirgendwo sonst als hier in dieser Kar­toffel­halle. „Die Maschinen singen“, sang ich in den Maschinen­krach hinein. „Die Maschinen singen“. Mehr brachte ich nicht zustande, und mein Neofuturismus fand sein frühes Ende. Was blieb, waren die Namen der Futu­risten, Brik war irgendwann hinzu­gekommen, denn ich hatte Majakowskis Poem „Darüber“ gelesen.

Heute denke ich, dass durch die Einschrän­kungen in der DDR, die sich nicht nur auf die mangelnde Versorgung mit Süd­früchten auswirkte, auch die Sprache in Mitleiden­schaft gezogen wurde. Ich musste sie gewis­ser­maßen neu lernen, und dazu brauchte ich Lese­futter, das sprachlich über die deutsche klassische Moderne hinausging, und ich beneidete die Russen, die ihre Archive öffneten und sich ihren Futurismus sukzessive zugänglich machten. In der DDR sollte es noch eine Weile dauern. Und in den wirren der soge­nannten Wende verlor ich auch meinen eigenen Futu­rismus ein wenig aus den Augen.
  1991 erschien im Aufbau­verlag ein Buch, das mir meine gespenstischen Helden mit einem Schlag wieder nahe brachte. „Gesichter der Avantgarde“ hieß die von Fritz Mierau heraus­gege­bene Sammlung mit Portraits, Essays und Briefen von Sergej Tretjakow, und darin fanden sich eben auch Portraits von Krutschonych und Chlebnikow, die mich, der ich auf Sprach­suche war, in ihren Bann zogen.
  „Im riesigen Wortwalzwerk der Gegenwarts­dichtung muss es eine Gießerei geben, in der der ganze Wortbruch und -schrott geschmolzen und Chemisch analysiert wird, um, durch die verschiedenen Abtei­lungen gegangen, als glänzender Stahl zu funkeln, scharf und elastisch.
  Schmelz­hütte des Worts zu sein, ist die Funktion Krutschonychs und der Gruppe seiner Sa'umer.“ hieß es da, und entfachte von neuem meine suche nach den Gespenstern. Eine Einzel­publikation mit Texten Krutschonychs fand ich noch nicht, aber eine zwei­bändige Ausgabe mit den Werken Chlebnikows, die Peter Urban bei Rowohlt besorgt hatte. Das war schon mal ein Anfang. Und es sollte lange ein Anfang bleiben. Zwanzig Jahre lang, man wagt es gar nicht auszu­sprechen.

Im letzten Jahr dann erschien im jungen aber jetzt schon verdienst­vollen Verlag Reinecke & Voß Krutschonychs „Phonetik des Theaters“. Valeri Scherstjanoi, der unver­wüstlich Laut­poet hat sie besorgt und aus­gestattet. Das kam für mich einer Befreiung gleich. Endlich hatte das Gespenst einen Körper bekommen. Dieses Buch gibt nun, zwar keinen erschöpfenden, aber einen instruktiven Einblick in das Wort­walzwerk des Sa'um. Und das Buch hat etwas erfri­schend Zeit­gemäßes, weil es nicht nur an der Dichtung, sondern auch an der Inszenierung der Dichtung arbeitet. Weil es eine Einheit aus Klang, Geste, Gebärde, Bewegung vorstellt, die dieses Kunstwerk ist, das wir eher vorläufig Gedicht nennen, denn:
  „Die Aufgabe der sa-umnischen Sprache ist: Eine für die gegebene Sprache ungewöhnliche Lautreihe zu erspüren, das Ohr und den Hals, die den Laut aufnehmenden und reproduzierenden Organe des Hörens und des Sprechens zu erfrischen.“ (Krutschonych in: Woher und wie kamen die Sa-umniki? Phonetik des Theaters. S.64)

 

Jan Kuhlbrodt    15.05.2012   

 

 
Jan Kuhlbrodt
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