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Jorie GrahamRegion der UnähnlichkeitDetail aus der Schöpfung Kitik
„und aus dem äußersten Ende der Nacht der blühende Weißdorn aufstand.“ Wenn es noch Argumente gebraucht hätte, mit diesem Vers hätte sie mich gehabt. Im antikisierenden Rhythmus bricht sich eine Erfahrung Raum die die Enden von Sinnlichkeit und Reflexion zusammenbiegt zu einer auf der Seite liegenden Acht, und der blühende Weißdorn ist geradezu zu riechen. Der Vers ist dem langen Gedicht „Chaos“ entnommen, das sich ungefähr in der Mitte des Bandes befindet. Ein Zufall vielleicht, dem Titel entsprechend, aber nach vorn wie nach hinten gebiert der Band Ordnung. Oder etwas, das Ordnung ähnelt. Das erste Lesen war mir ein Rausch. Niemals zuvor war ich in einer so kurzen Zeit durch einen solchen Berg von Gedichten geritten. Atemlos, erschüttert, befreit. Ja, dachte ich immer wieder, so muss man das machen. Region der Unähnlichkeit. Region of Unlikeness. Allein das Wort Unähnlichkeit, das Abweichende in der Identität, die selbst nicht identisch, flirrende Ränder, die ganze Dialektik in einem Wort. So wie Geschichte in einem Text von Graham zusammenschnurrt. Das ganze zwanzigste Jahrhundert. Rhythmisch, politisch, intellektuell. Als wäre Ordnung möglich. Als gäbe es einen Sinn jenseits des Gedichts. Aber: „Schon zu Anfang, schon bevor sie schlüpften Als gäbe es Geschichte. Als sollte sie endlich beginnen. Es gibt in der Filmsprache den Begriff Aliasing. Das Zusammenfügen der Bilder durch unser Hirn zur Bewegung lässt uns die Umdrehung der Wagenräder als Rückwärtsbewegung erkennen, obwohl der Wagen doch vorwärts fährt. Revolutionen sind physikalisch immer beides: Aufwärts- und Abwärtsbewegungen. Revolution und Involution. Erkennbar an der Pause zwischen den Bildern, dem Moment der Bewegung also, der ausgespart bleibt. Hier setzen die Texte von Graham an. Am Flirrenden, am Licht das von irgendwoher kommt und das immer schon Reflexion ist. „Ich seh das Licht von unserm wirklichen Platz Zuerst habe ich Werner Hamachers formidable Übersetzung gelesen. Und immer, wenn ich dachte, ich sollte mal im Urtext nachsehen, kam der nächste und wieder der nächste Vers, das ich nicht mehr wusste, wo der Ansatz war, und ich fand die Selle nicht, und später überwand ich mein lausiges Englisch und ich las auch die amerikanische Version komplett und verstand, dachte ich zumindest. Pate stand mir der Rhythmus, der in Grahams Texten und den Hamacherschen Übersetzungen niemals geliehen wirkt, niemals in jenes galoppierende Einerlei verfällt, das uns seit dem Pop allweil begegnet. Weil Graham Geschichte denkt, weiß sie um Gangarten weiß. Rhythmus und Tempowechsel. Und sogar mehrere Tempi gleichzeitig. Formationen. Ordnungen. Dass ich mich an die Klavieretüden von Ligeti erinnert fühlte und an die Stücke für zwei Klaviere. Sich überlagernde Formationen auch hier. Strukturen, die eine dritte höhere Ordnung anklingen lassen. Und vielleicht ist es genau das, was bei der Lektüre melancholisch stimmt: Die Erinnerung an die Möglichkeit von Sinn. Als gäbe es Freiheit.
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Jan Kuhlbrodt
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