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Franz Hessel

Pariser Romanze: Papiere eines Verschollenen

Vergangenheitsformen

Kritik
  Franz Hessel
Pariser Romanze. Papiere eines Verschollenen
Mit einem Nachwort von Martin Flügge
Lilienfeld Verlag Düsseldorf 2012
ISBN 978-3-940357-28-1
18,90 Euro


Dieser Tage jährt sich die Macht­ergreifung durch die NSDAP in Deutsch­land zum 80. Mal, Hitlers Ernennung zum Reichs­kanzler durch Hinden­burg und die Ver­abschie­dung des Er­mäch­tigungs­gesetzes durch den Deut­schen Reichs­tag. Ein Pro­zess strebte seiner Vol­len­dung zu, der in der Perver­tierung des National­staats­gedan­kens im deut­schen Kaiser­reich schon angelegt war. Gleich­zei­tig stellt diese Voll­endung aber auch einen Ein­schnitt dar, der demo­kratische Pro­zesse in Deutsch­land unter­brach und ab­brach und die Deutsche Kultur durch Ermor­dung und Ver­trei­bung großer Teile ihrer Prota­gonisten gewisser­maßen aus­löschte, zumindest aber auf Eis legte. Ich glaube, wir haben uns bis heute nicht davon erholt.

Das Buch „Pariser Romanze“ führt uns an einen ent­scheidenden Punkt der Europä­ischen Geschichte des ver­gangenen Jahr­hunderts. Der Erzäh­ler schreibt aus einem deut­schen Feld­lager im ersten Welt­krieg Briefe an einen franzö­si­schen Freund, in denen er das/sein Paris vor dem Ersten Welt­krieg wieder aufleben lässt. Und das Buch erzählt die Beziehung zu Lotte, mit der der Prota­gonist die nähere Um­gebung und die ver­schie­denen Treff­punkte der Pari­ser Boheme erkundet. Wir be­glei­ten das Paar zu den Festen seiner Künst­ler­freunde, Nach­mittags­tees und Drogen­orgien. Aber auch auf Spa­zier­gängen, auf denen sie die Ange­stellten der Pariser Mode­läden bei ihrer Mittags­pause be­obach­ten. Wie später Walter Benjamin in seinem Pas­sagen­werk begibt man sich auf Ent­deckungs­reise in die Haupt­stadt des IXX. Jahr­hunderts, die eine enorme Moder­nität aus­strahlt, und findet sich in einer Ge­mein­schaft von Ent­deckungs­rei­senden auf­gehoben. Zu­mindest so lange, bis der 1. Welt­krieg be­ginnt. Im Epi­sodischen dieser Ro­manze spiegelt sich letzt­lich auch der episo­dische Cha­rak­ter der po­liti­schen Situa­tion vor Aus­bruch dieses bis dahin größten Schlach­tens, der ersten Aus­einander­set­zung, deren Ver­nich­tungs­orgien indus­triell geprägt waren.

Dabei geschieht in diesem Buch etwas ganz Außer­ordent­liches. Mit der Erinnerung an das Vor­kriegs­paris lebt im Text ein auch sprach­licher Duktus wieder auf, der mich bei der Lektüre zunächst irri­tierte, den ich aber, je mehr ich mich darauf einließ, umso mehr genoss. Es ist eine Sprache, die letzt­lich mit der Zerstörung Euro­pas ihr Ende fand und nur noch als Echo durch die Texte weht. Eine außer­ordentliche Erfahrung, die mir auf eine ein­dring­liche Art und Weise klar macht, wie viele Formen von Ver­gangen­heit es gibt und wie ver­flochten Sprache mit Politischem aber auch dem – nennen wir es – Tages­visionären ist. Denn die Handelnden in diesem Text leben zunächst in einer Art utopischen Blase, die letztlich der poli­tischen Ent­wicklung nicht gewachsen war.
  Das zwanzigste Jahrhundert war ein kurzes. Im Grunde begann es erst 1914 mit dem ersten Weltkrieg und endete mit dem Zu­sammen­bruch des Kom­munis­tischen Systems zehn Jahre vor dem groß gefeierten Mil­leniums­wechsel. Im Nachhinein könnte man es viel­leicht als ein Jahrhundert der Größe und des Ver­falls der National­staaten und als das der indu­stria­lisiet­ten Ver­nichtung sehen. Rassis­mus, Anti­semitis­mus und Nationa­lismus er­reichten zumindest in Mittel­europa und vor allem in Deutsch­land ihren Höhe­punkt.

Dass die Zerstörung sich letztlich auch gewis­ser­maßen rückwirkend, also auf die Ge­schichte ausge­wirkt hat, auf die Rezep­tion all dessen, was in der Zeit voran ging, bedeutet, dass auch die kultu­relle Über­lieferung im 20. Jahrhundert wenn nicht unter­brochen, so doch massiv gestört und abge­lenkt war, und deshalb immer wieder Dokumente neu- oder wieder­entdeckt werden. Das liegt zum einen an der enormen Zer­stö­rungs­kraft, die der Faschismus entfaltete, aber auch an den Versuchen in den Staaten nach 1945 eine eigene reine Über­lieferung und Tradition zu begründen.
  Dabei gewannen zwei dominierende Prinzipien die Oberhand, in Ost­deutschland der sozia­listische Rea­lismus, der die Welt­geschichte und mit ihr die Lite­ratur als Vorlauf einer finalen prole­tari­schen Revolution sah und alles an dieser bemaß und in ein totalitäres Fort­schritts­konzept presste, und other­wise die von der Gruppe 47 dominierte so­genannte Suhr­kamp­kultur, in der sich die Deut­schen Intel­lektuel­len letzt­lich zu Opfern um­deuteten, die sich aber die Kraft erhalten hatten, sich am eigenen Schopfe aus dem Schlamm zu ziehen, und ihr Pferd gleich mit.
  Der vorliegende Text ist in der Bibliothek Suhrkamp in den Achtziger­jahren des ve­rgangenen Jahr­hunderts schon einmal erschienen. Das zeigt, dass es eine gewisse Beharr­lichkeit braucht, derartiges wieder im gesell­schaft­lichen Gedächtnis zu verankern.

Diese ganze Rede ist nötig, weil sie darauf hinweist, welch wichtige Arbeit der Lilien­feld Verlag heute leistet, in dem er ver­ges­sene oder fast ver­gessene Texte, die aber im Grunde zentral sind für das Verständnis unserer Literatur und Geschichte, wieder zugänglich macht, und auch noch in dieser an­sprechenden Form (im vor­liegenden Fall grünes Halb­leinen, der Ein­band ist unter Ver­wendung einer Arbeit von Simone Lukas gestaltet).
  Besondere Verdienste erwirbt der Verlag sich unter anderem eben bei der Pflege des Werkes Franz Hessels. An anderer Stelle habe ich bereits über seinen Roman Der Kramladen des Glücks geschrieben. Wie zu diesem steuert Martin Flügge auch zur Pariser Romanze ein schönes und kenntnis­reiches Nachwort bei. Und ja; im Grunde handelt es sich bei Pariser Romanze um einen voll­kommen ent­gegen­gesetzten Welt­ent­wurf zu dem, den Ernst Jünger in „In Stahl­ge­wittern“ prä­sen­tiert. Und es ist kein Wunder, dass Jünger in den letzten Jahren des ver­gangenen Jahr­hunderts in den Feuil­letons wesent­lich präsen­ter war als Hessel.
  Für Hessel ist der Krieg das Ende einer Gemein­schaft von Menschen und für Jünger der Beginn einer Gemeinschaft von Helden. Franz Hessel, der jüdische Autor, starb auf der Flucht vor den Nazis in einem Inter­nierungs­lager, während Jünger als Offizier der Besat­zungs­truppen sein Pariser Tagebuch ver­fasste. Und bei Hessel erfahren wir viel darüber, was uns in den „Stahl­gewit­tern“ verloren ging.
  Hessel lässt eine Vorkriegsutopie der Pariser Boheme erstehen. Ihre Prota­gonisten kamen aus den ver­schie­dens­ten europäischen Ländern (Norwegen, Deutsch­land, Spanien usw.) und führ­ten in Paris ein Leben, in denen diese Her­künfte im Grunde nur als kultu­rel­ler Humus eine Rolle spielten. Keiner der Künstler be­harrte auf einem beson­deren Pri­vileg, das er aus einer natio­nalen Her­kunft ablei­tete. Mit dem Be­ginn des ersten Welt­kriegs aber meldeten die Herk­unfts­nationen Anspruch auf das Men­schen­material an, um die Freunde kurze Zeit später auf­einander zu hetzen. Und auch wenn Hessel eine Zeit be­schreibt, die den blutigen Na­tiona­lismen vorangeht, weist seine Schil­derung doch weit über diese hinaus.

 

Jan Kuhlbrodt    23.02.2012   

 

 
Jan Kuhlbrodt
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