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Lew SchestowSiege und NiederlagenVersuch über Schestow I Essay (1)
→ Versuch über Schestow – 2. Teil
Das Vergangene Das zwanzigste Jahrhundert stirbt scheibchenweise. Und mit jedem Stück, das mir schwer schien, bedeutsam und erhaben, und das die Leichtigkeit der Vergängnis angenommen hat, und fortgeweht ist, wird eine weitere Schicht sichtbar. Ein Jahrhundert aus Blätterteig, gefüllt zuweilen mit Senf, manchmal mit Marmelade aber zwischendrin unglaublich viel Luft. Aufgeplusterte Bedeutsamkeit, vor allem am Ende, geliehen aus anderen Jahrhunderten und das Konzept Zeit in Frage stellend. Abläufe. Die Ränder des Jahrhunderts auch, sind kaum auszumachen, sind mürbe, porös und abgestoßen. Man bekommt es nicht zu fassen. Immer nur Fetzen, immer nur Krümel. Und manchmal schon wünschte ich mir, es würde in eine Faust passen, um endlich entsorgt zu sein. Ein frommer Wunsch. Es will einfach nicht vergehen, dieses Jahrhundert, so wie es auch nicht beginnen wollte. Lew Isaakowitsch Schestow, der eigentlich Jehuda Leib Schwarzmann hieß, gehört diesem Jahrhundert an, obwohl er bereits 1866 in Kiew geboren wurde. Er starb 1936 in Paris und er war ... Ja was war er? In seinen Schriften entzieht er sich der Bestimmung, weil er die Kategorien einfach nicht erfüllt. Er war Philosoph, Religionsphilosoph, Literaturwissenschaftler und Kritiker, und er war nichts von alldem. Vielleicht trifft auf Schestow das Wort Literat noch am besten. Felix Filipp Ingold, der Schestow übersetzt und herausgegeben hat, schreibt in seinem Vorwort: „Mit Nietzsche ging Schestow, der als philosophischer Autodidakt gleichsam naturgemäß zum Frei- und Querdenkertum neigte, einig nicht nur in seiner Fundamentalkritik an der europäischen Schulphilosophie, sondern auch in seiner Vorliebe für Musik und Tanz, von der sein sprunghafter Stil – im Denken nicht anders als in der Schreibbewegung – deutlich geprägt war.“ Und das ist fürs erste das bemerkenswerte an Schestows Texten, die in diesem Band: „Siege und Niederlagen“ zusammengefasst sind. So wie er nicht einzuordnen ist, ordnet er nicht ein. Übertritt jegliche Gattungsgrenze, macht aus philosophischen Texten literarische und aus literarischen solche der Erkenntnistheorie. Und: noch einmal aus Ingolds Vorwort: „Man könnte den Eindruck gewinnen, Schestow lasse 'seine' Autoren durchweg und bedenkenlos in seinem Namen, an seiner Stelle argumentieren. Er selbst hat dieses wissenschaftlich unhaltbare Vorgehen als ›Seelenwanderung‹ gerechtfertigt, sein Freund und Kollege Berdjajew fand dafür den passenden, leicht ironischen Ausdruck „Schestowisierung“, was für eine vereinnahmende „Überschreitung“ oder für eine Art von synthetisierender Nachschrift stehen mag.“ Mein Philosophieprofessor Alfred Schmidt, Horkheimerschüler und Theoretiker des Kritischen Materialismus, sagte uns immer wieder vor allem in Hinblick auf die französische Tradition, wir sollten die Werke nicht wie einen Steinbruch benutzen und uns nicht nach Gutdünken einzelne Gedanken herausbrechen, sondern ein Denken in Gänze rekonstruieren. Nur so würden wir den Texten gerecht. Und er hatte wohl recht, wenn es darum ginge, den Texten gerecht zu werden in philosophischer Redlichkeit. Aber wenn die Zeit schon derart zerfasert, wie soll dann der Gedanke auf den Punkt kommen? Schmidts eingeforderte Redlichkeit führte immer weiter weg in einen fremden Kopf hinein und von dem, was wir Realität nennen, und was vielleicht auch eine Realität ist. Natürlich hat das seinen Reiz, aber was Schestow macht, ist ein Abenteuer auf ungesichertem Gelände. In dem er die Texte um sich selbst herum gruppiert, setzt er sich ihnen aus. Und dieses Abenteuer lesend mitzuerleben ist gleichfalls abenteuerlich. Wenn Schestow sich zum Beispiel Hamlet zuwendet, dann also der Figur Hamlet, den vorgestellten Menschen, nicht vordergründig dem Stück als Literatur aber über das Stück: „Er nahm diese ganze gelehrte Nahrung zu sich, erweiterte seine theoretische Erfahrung, doch je mehr er aus seinen Büchern erfuhr, desto weniger begriff er die reale konkrete Bedeutung der gewaltigen Lebenswelt, mit ihrer endlosen Vergangenheit und ihrer weitreichenden Gegenwart.“ Im Text, aus dem dieses Zitat stammt (Versuch über Hamlet), findet sich viel der modernen und zeitgenössischen Sprach- und Wissenschaftsskepsis. Als schlüge sich um 1900 der Positivismus endgültig auf die Seite der Maschinen, und die Menschen als Maschinenbauer bleiben ratlos dahinter zurück. Einige wenige von ihnen werden wie Hamlet zu Enzyklopädisten. Und einer davon begegnet uns 30 Jahre später in Sartres “Der Ekel“ wieder. Noch interessanter aber fand ich die Wendung „endlose Vergangenheit“. Endlos heißt auch: unüberschaubar, nicht auszuloten. der Endlosigkeit ist kein technisches Kraut gewachsen. Nur der Begriff Fortschritt versucht diesem Material einen Sinn einzublasen, tut dieses aber auf Basis einer Selektion: was nicht in sein Schema passt, ist dem Untergang anheimgegeben. Aber wenn uns die endlose Vergangenheit nicht einschüchtert, setzt sie uns frei. (kann sie uns frei setzen.) Geschichte. Hat Geschichte, wenn sie keinen Anfang hat, dennoch ein ende? Schestow spricht von „endloser Vergangenheit und weitreichender Gegenwart“. kein Wort von Zukunft. als schüfe Geschichte sich im vergangenen Jahrhundert sich selber ab. Wer aber sind wir dann? Die Hinterbliebenen?
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Jan Kuhlbrodt
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