poeten | loslesen | gegenlesen | kritik | tendenz | news | links | info | verlag | poet |
Lew SchestowSiege und NiederlagenVersuch über Schestow III Essay (3)
→ Versuch über Schestow – 1. Teil
Schestows Freiheit Aber wir müssen auf Freiheit zu sprechen kommen, wenn wir uns einem Autor wie Schestow zuwenden. Und zwar in doppelter Hinsicht: Einerseits scheint es mir noch immer Aufgabe des Denkens zu sein, die Antinomie zu überwinden, nach der Freiheit zwar möglich ist, der Zwang aber allgegenwärtig, und wir werden unser eigenes Freiheitskonzept befragen müssen, das eine Garantie beinhaltet, eine räumliche Begrenzung im Grunde nach dem Vorbild einer Gefängniszelle. Unsere Freiheit wird garantiert und abgesichert durch Vefassungsparagraphen und Gesetze, und das ist gut so; im Grunde aber wird sie dadurch erst hervorgebracht, ist also ein Reflex auf Unfreiheit. Denn nichts anderes machen Paragraphen, als die Freiheit zu beschneiden oder eben ein Gatter zu errichten, in welchem sie gilt. Mag sein, dass das etwas drastisch formuliert und das Gatter notwendig ist, um mir, also dem einzelnen seine (klägliche?) Restfreiheit zu sichern. Ein Beigeschmack bleibt immer. Unsere Freiheitskonzepte sind im Grunde Ergebnis der klassischen spekulativen Philosophie und Ausflüsse Hegelscher Dialektik. Sie sind vernünftig, jeder versteht sie (um an dieser Stelle Brechts Lob des Kommunismus ein wenig abzuwandeln.) Und sie sind im Ursprung Religiöse Konzepte. Das letzte Kapitel von Schestows Buch Athen und Jerusalem. Versuch einer religiösen Philosophie. enthält unter prägnanten Zwischenüberschriften wie wir es etwa von Adornos Minima Moralia her kennen, eine Reihe Kurzessays. Unter dem Titel Spekulation schreibt Schestow: … Darum beginnen alle spekulativen Systeme bei der Freiheit und enden bei der Notwendigkeit, wobei sie, da ja die Notwendigkeit allgemein gesprochen keinen guten Ruf genießt, gewöhnlich zu beweisen bemüht sind, dass jene letzte höchste Notwendigkeit, zu der man vermittelst der Spekulation gelangt, sich in nichts von der Freiheit unterscheide, mit anderen Worten, dass vernünftige Freiheit und Notwendigkeit ein und das selbe sei. Schestow bläst also hier im Posaunenchor mit Nietzsche und Kierkegaard zum Angriff auf Kant und Hegel. Und es ist eine Freude, diesem Konzert zuzuhören, auch wenn man sich der Gefahr bewusst ist, die mit den Tönen mitklingt. Denn was sich so verlockend nach Emanzipation anhört, öffnet auch eine Tür in den Totalitarismus. Schestow allerdings war schon aus persönlicher Verfolgungsgeschichte, als Jude und russischer Emigrant, wenig geneigt, diesen Weg zu gehen. Lektüren ziehen Lektüren nach an. Diesen für einen solchen Text eher untypischen Freiheitsexkurs habe ich einem Text Schestows über Ibsen zu verdanken. Ibsen ist mir selbst einer der liebsten Dramatiker, schon in der Schule hat mich die Nora ungeheuer beeindruckt, und vor ein paar Jahren befand ich mich im Theaterhimmel, als ich eine Inszenierung des Baumeister Solneß sah. In beiden Stücken werden Freiheit und Ausbruch aus bürgerlicher Enge verhandelt, aber ganz anders, als im folgenden: Im titelgebenden Essay des Bandes Siege und Niederlagen stellt Schestow Ibsens prophetisches Versdrama Brand vor. Es war ein Text Ibsens, den ich nicht kannte, und den er vor seinen großen Emanzipationsdramen schrieb. Zum Glück war in einer Übersetzung von Christian Morgenstern zum kostenlosen Download im Netz zu finden, so dass ich die Lektüren Parallel fortsetzen konnte. Das Stück mag Schestow sehr nahe gegangen sein, da es jenen Punkt szenisch sichtbar macht, an dem er selbst steht und arbeitet. Er beschreibt die Schnittstelle zwischen Vernunft und Religion. Zwischen Prophetie und falscher Prophetie. Brand (ein suchender, aber religiös schon fanatisiert, trifft auf seinem Aufstieg ins Hochgebirge (zu Gott?) ein paar, dass sich auf dem Weg hinab (in die Zivilisation) befindet. Und dieser Moment des Zusammentreffens scheint das zu sein, was Schestow erheblich interessiert. Der falsche Prophet, auch wenn er dem echten Propheten in jeder anderen Beziehung ähnlich wäre, traut sich selbst nicht und kann also auch nicht wissen, wohin er gehen soll. Er wird ewig schwanken, ewig seine Entscheidungen ändern: all seine seelischen Kräfte verausgabt er für den Kampf mit sich selbst, sodass für die Hauptsache nichts mehr übrig bleibt. Was hier einen fundamentalistischen Anklang hat, ist im Grunde das Gegenteil von Fundamentalismus, denn wer sich seiner Sache sicher ist, benötigt keine Gewalt. Und wer sich seiner Sache nicht sicher ist, wie wir wohl alle, sollte sich vor Prophetie hüten. Auch hier findet sich etwas von Schestows Aktualität angesichts der sich gebärdenden neoliberalen und neoreligiös-fundamentalistischen Positionen.
|
Jan Kuhlbrodt
Prosa
Lyrik
Gespräch
|
poetenladen | Blumenstraße 25 | 04155 Leipzig | Germany |
virtueller raum für dichtung |