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Versuch über Ingold (3. Teil)

Vom Abtragen der Monumente oder das Wesen der Chronologie

Über Felix Philipp Ingold (3)

→  Versuch über Ingold – 1. Teil
→  Versuch über Ingold – 2. Teil

  Felix Philipp Ingold
Gegengabe
Aus kritischen, poetischen und privaten Feldern
Urs Engeler Editor 2009


I

Langsam bekomme ich Zweifel, ob der Kontinent Ingold mit herkömml­ichen Mitteln von mir überhaupt zu überqueren ist. Vielleicht aber scheitere ich einfach nur an meiner Unge­duld. Und es ist ja über­haupt nicht nötig, alles zu kennen, zumindest nicht so­fort, und da es sich verändert, ist es für den Moment auch gar nicht möglich. Es ist immer noch die alte Sammelwut, die in mir aufkeimt und die auf Vollständigkeit abzielt. Ein Reflex auf den To­talita­ris­mus meiner Jugend viel­leicht. Einem Tota­lita­rismus, den Berger, die Hauptfigur aus Ingolds Roman Alias, zeitweise mit­getragen hatte, und dem er sich erst kurz vor seinem Tod ent­ziehen konnte, oder eben nicht entziehen. Es gibt kein Ent­kommen, wenn sich alles fügt, die Sammlung findet erst ein Ende, wenn die letzte Brief­marke hinzu­ge­kommen ist, und damit endet auch das Sammeln.
Der Autor begegnet uns als Text, und der Text ist das, was wir gerade lesen, plus die vergangenen Lektüren. Was kommt können wir nicht wissen, ist maximal eine Ahnung. Das ist Freiheit.

II.

Vor mir liegen zwei schwer­gewichtige Bände aus dem Verlag Urs Engeler Editor. Ein Verlag im Übrigen, dessen Abwesen­heit mir zuweilen rechte Sehn­suchts­zustände einbringt, bescherte er mir doch einige der inten­sivsten Lese­erleb­nisse der letz­ten Jahre. Es wäre müßig an dieser Stelle einzelne Bücher zu nennen, das gesamte Programm war furios.
So furios wie eben jene zwei Ingold­bände, die jetzt vor mir auf dem Tisch lasten. Zum einen „Wort­nahme“, ein Band mit Ge­dichten, und zum anderen der Band „Gegen­gabe. Aus kriti­schen poeti­schen und priva­ten Feldern.“ Es ist noch nicht ganz abzu­sehen, was diese Bücher mit mir an­stellen werden.

Felix Philipp Ingold
Wortnahme
Jüngste und frühere Gedichte
Urs Engeler Editor 2005


III.

Gegengabe ist ein Buch, wie ich mir schöner keines senken kann. Irgendwann in meiner Abi­tur­zeit hatte ich einmal einen Reclam­band gekauft, der einen Abdruck der Texte aus der Zeit­schrift Athäneum enthielt. Auch dieses war eine Art Schlüssel­erleb­nis. Texte, die sich in kein Genre­ghetto pressen ließen. Versammelt in einem Band. Natürlich freute ich mich damals auf­grund meiner Jugend vor allem über das Apho­ris­tische, das ich mir bedeut­samer Mine zitieren konnte, Freiheit war noch Ahnung.

IV.

Essay, Gedicht, Erzählung. Übersetzung.

Und die Vielfalt der Form des Geschrie­benen spiegelt sich in der Vielfalt der Lese­erfah­rungen. Und kein Text findet man in diesen beiden Büchern, den man als zen­tral bezeichnen könnte. Es ist eine beständige Ver­lagerung des Schwer­punkts. Eine Art tän­zelndes Denken.

V.

Gerade liegt mein Fokus auf einem Text, der Babel heißt und sich seinen Titel von dem rus­sischen Schrift­steller Isaak Babel entliehen hat. Dieser Text beschreibt eine Reihe von Begeg­nungen mit Elias Canetti. Gegen Ende des Textes im vorletzten Ab­schnitt heißt es: „Was Canetti über Isaak Babel geschrieben hatte und was er mir über ihn be­rich­ten konnte, brauchte nicht wirk­lich geschehen zu sein, es hätte auch herge­leitet werden können aus dessen stark auto­bio­grafischen Erzähl­texten und ergänzt durch Wunsch­denken und Phan­tasie. Canetti betonte im Übrigen selbst, dass Erin­nerung nur als Erfin­dung be­anspruchen könne, und er sprach auch von der Ent­täuschung über ein Leben, das zwar doku­mentier­bar, als do­kumen­tiertes aber umso unwirk­licher war.“

IV.

Es hat sicher seinen Grund, dass ich an jener Stelle in den Auf­zeichnungen und zwischen den im Buch abge­druckten Photos verweile, denn dieser Gedanke (kann man ihn schon als Grund einer Poetik betrach­ten?) ist mir in allem, was ich lese, aber auch in dem, was ich zu schreiben versuche, sehr nahe. Und ähnlich dem Ich­erzähler des Textes in seinen Begeg­nungen mit Canetti, geht es mir mit anderen Aut­orinnen und Autoren, aber auch mit Canetti und Ingold. Ich bin be­ständig versucht, ein Gespräch zu begin­nen, und manchmal gelingt es.

V.

Der zweite Band, der auf meinem Tisch liegt (lastet ist kein Wort der Wahl an dieser Stelle) heißt Wortnahme und ver­sammelt Gedichte Ingolds aus dem Zeitraum zwischen 2005 und 1999. Sie sind in chrono­lo­gisch umgekehrter Reihen­folge ange­ordnet. Man liest sich also, wenn man von An­fang liest, in eine Vergangen­heit hinein, in diesem Fall, in eine jüngst ver­gangene. (Dieses Prinzip findet später in der Antho­logie „Als Gruß zu lesen“ erneut An­wendung. Auch hier findet sich Evo­lution als Ver­schie­bung ver­standen, nicht als Fort­schritt.)

VI.

So also können 5 Jahre Produktion lyrischer Texte aussehen. Die Texttitel wirken hierbei zuweilen wie thema­tische Be­gren­zungen. Es folgen dann mehrerer Gedichte unter einem Titel, als beschrieben sie ein Feld, ein poetisches und poeto­logisches, zuweilen auch ein religiöses.
Tastend, (wenn Sprache tasten kann) schiebt ein Text sich vorwärts, was bei der Reihen­folge und An­ord­nung ein Rückwärts ist, und führt dabei den Gedanken eines Erkennt­nis­fort­schritts durch die Zeit ad absurdum.

Unser Wissen ist kein Berg, an dessen Gipfel wir stehen und zurückblicken, nein, es ist Fläche, und das besondere daran: ein jeder Punkt ist gleich weit weg vom Rand. Aber: und das scheint Paradox, eines ergibt sich aus dem anderen. Verschiebung ist in jede Richtung möglich. Somit erweist sich Zeit im Ende als Erfindung, als reines Ordnungs­prinzip. Und wir können damit operieren wie mit einer Anordnung von Vokalen.

Out

Noch eine Nacht zu
Genua. Genau
mit lauteren Erinnerungen
ausgemalt. Die Augen
zum Beispiel
die baden wie Spatzen im Staub.
Den Gau
vermisst flatternd der x-fache
Blick. Keine Rede
von Gerettetsein. Das Meer bleibt
eins. Geteilt
von so viel Kielen.

Und immer wieder finden sich Anspie­lungen aufs alte Testament. Ich lese und lese.

 

Jan Kuhlbrodt    04.11.2012   

 

 
Jan Kuhlbrodt
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