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Versuch über Ingold (3. Teil)Vom Abtragen der Monumente oder das Wesen der ChronologieÜber Felix Philipp Ingold (3)
→ Versuch über Ingold – 1. Teil
I Langsam bekomme ich Zweifel, ob der Kontinent Ingold mit herkömmlichen Mitteln von mir überhaupt zu überqueren ist. Vielleicht aber scheitere ich einfach nur an meiner Ungeduld. Und es ist ja überhaupt nicht nötig, alles zu kennen, zumindest nicht sofort, und da es sich verändert, ist es für den Moment auch gar nicht möglich. Es ist immer noch die alte Sammelwut, die in mir aufkeimt und die auf Vollständigkeit abzielt. Ein Reflex auf den Totalitarismus meiner Jugend vielleicht. Einem Totalitarismus, den Berger, die Hauptfigur aus Ingolds Roman Alias, zeitweise mitgetragen hatte, und dem er sich erst kurz vor seinem Tod entziehen konnte, oder eben nicht entziehen. Es gibt kein Entkommen, wenn sich alles fügt, die Sammlung findet erst ein Ende, wenn die letzte Briefmarke hinzugekommen ist, und damit endet auch das Sammeln. Der Autor begegnet uns als Text, und der Text ist das, was wir gerade lesen, plus die vergangenen Lektüren. Was kommt können wir nicht wissen, ist maximal eine Ahnung. Das ist Freiheit. II. Vor mir liegen zwei schwergewichtige Bände aus dem Verlag Urs Engeler Editor. Ein Verlag im Übrigen, dessen Abwesenheit mir zuweilen rechte Sehnsuchtszustände einbringt, bescherte er mir doch einige der intensivsten Leseerlebnisse der letzten Jahre. Es wäre müßig an dieser Stelle einzelne Bücher zu nennen, das gesamte Programm war furios. So furios wie eben jene zwei Ingoldbände, die jetzt vor mir auf dem Tisch lasten. Zum einen „Wortnahme“, ein Band mit Gedichten, und zum anderen der Band „Gegengabe. Aus kritischen poetischen und privaten Feldern.“ Es ist noch nicht ganz abzusehen, was diese Bücher mit mir anstellen werden.
III. Gegengabe ist ein Buch, wie ich mir schöner keines senken kann. Irgendwann in meiner Abiturzeit hatte ich einmal einen Reclamband gekauft, der einen Abdruck der Texte aus der Zeitschrift Athäneum enthielt. Auch dieses war eine Art Schlüsselerlebnis. Texte, die sich in kein Genreghetto pressen ließen. Versammelt in einem Band. Natürlich freute ich mich damals aufgrund meiner Jugend vor allem über das Aphoristische, das ich mir bedeutsamer Mine zitieren konnte, Freiheit war noch Ahnung. IV. Essay, Gedicht, Erzählung. Übersetzung. Und die Vielfalt der Form des Geschriebenen spiegelt sich in der Vielfalt der Leseerfahrungen. Und kein Text findet man in diesen beiden Büchern, den man als zentral bezeichnen könnte. Es ist eine beständige Verlagerung des Schwerpunkts. Eine Art tänzelndes Denken. V. Gerade liegt mein Fokus auf einem Text, der Babel heißt und sich seinen Titel von dem russischen Schriftsteller Isaak Babel entliehen hat. Dieser Text beschreibt eine Reihe von Begegnungen mit Elias Canetti. Gegen Ende des Textes im vorletzten Abschnitt heißt es: „Was Canetti über Isaak Babel geschrieben hatte und was er mir über ihn berichten konnte, brauchte nicht wirklich geschehen zu sein, es hätte auch hergeleitet werden können aus dessen stark autobiografischen Erzähltexten und ergänzt durch Wunschdenken und Phantasie. Canetti betonte im Übrigen selbst, dass Erinnerung nur als Erfindung beanspruchen könne, und er sprach auch von der Enttäuschung über ein Leben, das zwar dokumentierbar, als dokumentiertes aber umso unwirklicher war.“ IV. Es hat sicher seinen Grund, dass ich an jener Stelle in den Aufzeichnungen und zwischen den im Buch abgedruckten Photos verweile, denn dieser Gedanke (kann man ihn schon als Grund einer Poetik betrachten?) ist mir in allem, was ich lese, aber auch in dem, was ich zu schreiben versuche, sehr nahe. Und ähnlich dem Icherzähler des Textes in seinen Begegnungen mit Canetti, geht es mir mit anderen Autorinnen und Autoren, aber auch mit Canetti und Ingold. Ich bin beständig versucht, ein Gespräch zu beginnen, und manchmal gelingt es. V. Der zweite Band, der auf meinem Tisch liegt (lastet ist kein Wort der Wahl an dieser Stelle) heißt Wortnahme und versammelt Gedichte Ingolds aus dem Zeitraum zwischen 2005 und 1999. Sie sind in chronologisch umgekehrter Reihenfolge angeordnet. Man liest sich also, wenn man von Anfang liest, in eine Vergangenheit hinein, in diesem Fall, in eine jüngst vergangene. (Dieses Prinzip findet später in der Anthologie „Als Gruß zu lesen“ erneut Anwendung. Auch hier findet sich Evolution als Verschiebung verstanden, nicht als Fortschritt.) VI. So also können 5 Jahre Produktion lyrischer Texte aussehen. Die Texttitel wirken hierbei zuweilen wie thematische Begrenzungen. Es folgen dann mehrerer Gedichte unter einem Titel, als beschrieben sie ein Feld, ein poetisches und poetologisches, zuweilen auch ein religiöses. Tastend, (wenn Sprache tasten kann) schiebt ein Text sich vorwärts, was bei der Reihenfolge und Anordnung ein Rückwärts ist, und führt dabei den Gedanken eines Erkenntnisfortschritts durch die Zeit ad absurdum. Unser Wissen ist kein Berg, an dessen Gipfel wir stehen und zurückblicken, nein, es ist Fläche, und das besondere daran: ein jeder Punkt ist gleich weit weg vom Rand. Aber: und das scheint Paradox, eines ergibt sich aus dem anderen. Verschiebung ist in jede Richtung möglich. Somit erweist sich Zeit im Ende als Erfindung, als reines Ordnungsprinzip. Und wir können damit operieren wie mit einer Anordnung von Vokalen. Out Noch eine Nacht zu Genua. Genau mit lauteren Erinnerungen ausgemalt. Die Augen zum Beispiel die baden wie Spatzen im Staub. Den Gau vermisst flatternd der x-fache Blick. Keine Rede von Gerettetsein. Das Meer bleibt eins. Geteilt von so viel Kielen. Und immer wieder finden sich Anspielungen aufs alte Testament. Ich lese und lese.
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Jan Kuhlbrodt
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