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40 % Paradies

Gedichte des Lyrikkollektivs G13

Lockere Gruppe

Kritik
  40 % Paradies
Gedichte des Lyrikkollektivs G13
Luxbooks 2012
152 Seiten, Ringeinband, 24 Euro


Sicher habe ich Vorlieben, aber die stelle ich erst einmal hinten an, und wenn im Verlaufe dieser Besprechung ein Text zitiert wird oder ein Name fällt, so steht er im Grunde für die Einzigartigkeit aller im Buch vorkommender Texte und Autoren. Außerdem empfehle ich allen, sich den Spaß zu gönnen und dieses Buch zu lesen, auch jenen die dafür ihre Folianten mit Inhalten gediegener Klassizität für einen Moment aus der Hand legen müssen. Machen Sie das, wohnen Sie einer Eruption bei, die nicht so häufig vorkommt, und zum Glück hier dokumentiert wurde, und sie erhaschen einen Fetzen Utopie!

Was da nämlich passierte im Kessel Berlin ist, dass sich eine Gruppe junger Menschen zusammengetan hat, um gemeinsam an Texten zu arbeiten, und es scheint, dass die Arbeit so angegangen wurde, dass in ihrem Ende nicht gleiche und gleichermaßen in eine Richtung gebürstete Texte stehen, sondern sich individuelle Qualitäten herausbilden und entwickeln könnten und können. Eine geglückte Gemeinschaft also. Und bei aller vor allem ideologisierter Gruppenerfahrung der Vergangenheit vielleicht so etwas wie ein kleines Wunder.

Wahrscheinlich wird die Gruppe noch eine Zeitlang fortbestehen und dann in alle Himmelsrichtung auseinanderdriften, oder sich, weil der Zustrom wächst, eine Struktur geben müssen, jenseits der quasi anarchistischen Grunderfahrung. Das ist nur natürlich.

Aber was einmal gelang, kann an anderen Orten mit anderer Besetzung immer wieder gelingen, und wahrscheinlich ist das der Kern jeder gelingenden Utopie: dass deren Vollzug ein zeitlich begrenzter ist, der sich unvermittelt an verschiedenen Orten und plötzlich kristallisiert, aber keine Anstalten macht, in die Ewigkeit hinein fortzuxistieren. Ewigkeitsstrukturen sind gewissermaßen das Gegenteil von Freiheit, das Gegenteil also von gelingender Kunst.

Im Wiesbadener Verlag Luxbooks ist unter dem Titel „40 Prozent Paradies“ eine Anthologie mit Gedichten des Lyrikparadieses G13 erschienen. G13 ist so eine offene Gruppe Berliner oder in Berlin Gestran­deter, die sich regel­mäßig trifft, um über Texte zu disk­utieren. Dass das Früchte trägt zeigt sich unter anderem darin, das die Hälfte, der heuer beim OpenMike im Bereich Lyrik startender dieser Gruppe entstammt.

Darin liegt aber auch die Gefahr, dass wenn einzelne Mitglieder sich in die Strukturen des Literaturbetriebs begeben, die Ganze Gruppe darin aufgerieben wird. Das Wet­tbewerbs­denken, die Eitel­keit und Ignoranz, die da herrschen, haben noch immer versucht, von allen die hin­zukommen, die Kontrolle zu übernehmen. Man kann jedoch hoffen, die G13 ist auch eine Schule des Wider­stands. Was sie aber auf jeden Fall ist, das ist eine Schule der Vielfalt. Die im Band ver­sammelten Texte spannen einen weiten Bogen vom eher prosa­orientierten Erzählgedicht bis zum Sprachspiel.

So kam es
Wir sahen uns und mussten lachen

heißt es an einer Stelle eines erzählenden Textes, welcher mit dem zumindest im deutschsprachigem Gedicht lyrikfremden Präteritum arbeitet. In der amerikanischen Lyrik sieht das schon anders aus, und was bedeuten jungen Autorinnen und Autoren von heute schon Sprach- und Ländergrenzen?! Der Text erzählt eine frühpubertäre Begegnung („von Mama keine Spur“) An anderer Stelle in andrem Text finden sich eher Surreale Bilder, erinnernd an eine andere Epoche von Dichtung und Malerei.

ich barg behutsam ein ohr aus einem buch

Diese zwei Zitate seien hier nur angeführt, um die Spannbreite des Ganzen zu verdeutlichen. Das, was mir beim lesen dieser Anthologie besonderen Spaß macht, ist, dass jeder Autor, jede Autorin sich frei aus der Kiste literarischer Überlieferung bedienen. Die Tradition scheint hier ihren schulmeisterlichen Schrecken verloren zu haben und sie wird damit zum Generator neuer Gedanken.
  Freiheit auch scheint rückwirkend Geltung zu beanspruchen. Und die Texte sind an keiner Stelle naiv. Es sind eben nur 40 Prozent Paradies, aber diese knappe Hälfte hat es in sich.

 

Jan Kuhlbrodt    09.11.2012   

 

 
Jan Kuhlbrodt
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