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Valeri ScherstjanoiMein FuturismusEin weiterer Bericht in Sachen Zukunft Kritik
„Majakowski hatte wiederholt gesagt, dass für ihn der Realismus nicht darin bestehe, dass der Dichter die Reste der Vergangenheit aufklaubt oder sich zum Spiegel des Wahren macht, sondern dass er als Schöpfer die Zukunft vorwegzunehmen habe.“ Roman Jakobson in Jakobson / Pomorska: Poesie und Grammatik. Dialoge Vorab: Ich hatte mir vorgenommen, das Buch innerhalb von zwei, drei Tagen zu lesen, zumal ja die Fußballeuropameisterschaft lief, konnte mich aber, da ich am späten Vormittag angefangen hatte, bis zum Abend nicht von den Texten losreißen und verpasste zwei Spiele. Einzig das umfangreiche und auch äußerst .erhellende Nachwort von Michael Lentz sparte ich mir für den nächsten Tag auf; denn ich war inzwischen einfach zu müde und bedauerte das sehr. Hin und wieder hadere ich damit, ein physisches Wesen zu sein, aber da kann man wohl nichts machen. Valeri Scherstjanoi ist 1950 in Kasachstan geboren und 1979 in die DDR übergesiedelt, wo er zwei Jahre lang im Bezirk Karl Marx-Stadt lebte, bevor er nach Ostberlin zog. Der erwähnte Bezirk ist deshalb nicht unwichtig, weil dort auch Annaberg / Buchholz lag, der Ort in dem Carlfriedrich Claus die meiste Zeit seines Lebens verbrachte. Claus, dem Scherstjanoi im Buch nicht nur ein Denkmal setzt. Wer das Glück hatte, dem Lautpoeten und bildenden Künstler aus dem Erzgebirge einmal zu begegnen, wird die Faszination sofort verstehen, die von ihm ausging, und die Scherstjanoi erfasste. Darüber hinaus gibt es wohl auch kaum etwas staunenswerteres als Claussche Sprachblätter oder Installationen, wie Schrift dort physisch wird, ist kaum zu beschreiben. In der Innenstadt von Karl-Marx-Stadt, innere Klosterstraße, befand sich in den Achtzigern die Galerie Oben, die unter anderem Claus' graphisches Werk betreute. Sie war so etwas wie die intellektuelle Heimstatt von meinen Freunden und mir, und ohne sie wäre uns das Ausharren in der sozialistischen Provinz erheblich schwerer gefallen. Jeden Mittwoch pilgerten wir zu den öffentlichen Veranstaltungen der Galerie, die uns einen Blick in zeitgenössische Kunst und Musik ermöglichte, zuweilen gab es sogar kleine Theaterinszenierungen. Im Publikum saßen oft Carlfriedrich Claus selbst, oder andere Künstler der Künstlergruppe Clara Mosch, die wir bewunderten, nicht zuletzt aufgrund der Freiheit, die sie sich nahmen. Im Zentrum von Mein Futurismus steht meiner Meinung nach ein Text, der die Einflusslinien, die Scherstjanoi prägen, auf einzigartige Weise engführt: „Carlfriedrich Claus und die russischen Futuristen“ heißt er. Zuerst war dieser Essay im Katalog „Schrift, Zeichen, Geste“ abgedruckt, der angesichts einer großen Ausstellung zu Claus im Chemnitzer Kunstmuseum erschien. Im Kontext der vorliegenden Sammlung aber entfaltet dieser Text eine ganz eigene Wirkkraft und hat in mir zumindest, den einen oder anderen Gedanken ausgelöst und verschoben, gerade was das Festhalten an kommunistischen Idealen seitens den Futuristen, vor allem von Majakowskis betrifft und von Claus. Der Autor zitiert ihn mit einem Satz, dessen Tragik einiges über die Situation linker Intellektueller im Kommunismus verrät: „Die Kommunisten sahen mich als Feind, also, die eigentlich meine Freunde waren, oder hätten sein sollen, aber sie waren's eben nicht.“ Valeri Scherstjanois Essaysammlung Mein Futurismus enthält auch einige Briefe an bereits verstorbene Kollegen, Briefe an Majakowski, eben, und an Charms, natürlich auch an Carlfriedrich Claus. In ihnen berichtet er ihnen aus der Zukunft, macht also aus der einseitigen Sache der Beschäftigung mit dem Überlieferten ein Zwiegespräch. Und das hat seine Richtigkeit, denn der Futurismus hat es nicht verdient, in Klassizismus zu erstarren. Dazu war, nein ist er zu sehr auf der Seite des Lebens, gerade wegen seiner politischen Missverständnisse und Selbstmissverständnisse, und ist als bloße Überlieferung gar nicht zu erfassen, zumal seine Lautdichtungen unbedingt gehört werden müssen. Irgendwann in meiner Kindheit, es muss also in den siebziger Jahren gewesen sein, gegen Ende eher, denn ich wusste schon was Arbeiterklasse und Sieg auf Russisch heißt, fand ich in einer Zeitschrift eine sogenannte Klangfolie, das war eine Art Schallplatte, nur eben dünn und flexibel, ein Stück Plastiktüte mit Rille, die auf einem Schallplattenspieler abzuhören war. Auf ihr war ein Stück Lesungsaufnahme von Wladmir Majakowski zu hören. Hinter dem Grundrauschen der Zwanziger erklang, tief und fast singend die Stimme des Dichters, wahrscheinlich eines seiner Gedichte deklamierend. Natürlich sprach die Stimme russisch, natürlich verstand ich von diesem Russisch kein Wort, und vielleicht übertreibe ich jetzt, aber sicher nur ein wenig, der Raum mit dem Plattenspieler, einer Siebzigerjahreschrankwand und mir darin wurde erfüllt von der Anwesenheit des Poeten, und es kam mir überhaupt nicht gespenstisch vor, als wäre Majakowskis Gegenwart die normalste Sache der Welt. Insofern steckt im Insistieren auf dem Futurismus, der von der Literaturgeschichte als abgeschlossenes Cluster mit italienischer und russischer Spielform betrachtet wird, keinerlei Anachronismus. Folgt man Majakowski, ist es geradezu die Pflicht eines jeden Künstlers, Futurist zu sein. Und es hat auch seine Richtigkeit bezüglich von Carlfriedrich Claus über Futurismus zu sprechen, nicht nur hinsichtlich dessen eigener Auseinandersetzung mit Chlebnikow und Krutschonych. Wahrscheinlich ist auch Scherstjanoi nicht der letzte Futurist, der seine Energie aus der Zukunft bezieht. Roman Jakobson schrieb unter dem Eindruck von Majakowskis Selbsttötung: „Der Faden der Zeit ist gerissen. Wir haben zu sehr in der Zukunft gelebt, zu sehr an sie gedacht und geglaubt, wir haben kein Gefühl mehr für eine Gegenwart, die sich selbst genügt, wir haben das Gegenwartsbewusstsein verloren ...“ Dieser resignative Gedanke ist angesichts der Verwandlung des kommunistischen Projekts in totale Herrschaft nur allzu verständlich. Inzwischen aber ist der Kommunismus Vergangenheit und die Zukunft hat ihn überlebt.
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Jan Kuhlbrodt
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