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Marcus Steinweg
Gespräch mit Jan Kuhlbrodt für den poetenladen
Risikolektüren
Gespräch Literatur und Lesen |
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»Ich wüsste nicht, warum ich lesen sollte, wenn die Lektüre nicht die Chance hätte, in meine Existenz wie ein Blitz einzuschlagen, mein Leben umzulenken, meine Realität zu rekonfigurieren. «
Marcus Steinweg in poet nr. 18
Gespräch in poet nr. 18
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Marcus Steinweg, geboren 1971 in Koblenz, lebt als Philosoph und Dozent in Berlin. Er arbeitet seit mehreren Jahren mit dem Künstler Thomas Hirschhorn zusammen und gibt die Zeitschrift Inaesthetics heraus, die sich an der Schnittstelle von Kunst und Philosophie bewegt. Publikationen unter anderem Bataille Maschine, Aporien der Liebe und Philosophie der Überstürzung (alle Merve Verlag) sowie zuletzt Inkonsistenzen (Matthes & Seitz 2015).
Jan Kuhlbrodt: Das heißt aber auch, dass nicht jedes Buch eine Erfahrung hergibt, wenn man sie so emphatisch bestimmt. Was Hegel betrifft, habe ich Teile der Wissenschaft der Logik während meines Studiums in der DDR in der Bibliothek mit Hand abgeschrieben, weil man die Bücher nicht ausleihen konnte. Die Erfahrung, nichts zu verstehen von dem, was man schreibt, war kolossal. Und vielleicht ist diese Form der Entschleunigung, das Gegenteil von dem, was Du von Deiner Lektüre der Phänomenologie berichtest. Meinst du, Verstehen ist ein physischer Prozess, wie das Lesen ja auch zunächst ein physischer Prozess ist, der zuweilen ja auch zu Rückenschmerzen führt?
Marcus Steinweg: Wie alle lese ich nicht alles, was ich lese, mit Genuss. Ich lese auch nicht ausschließlich, um mich zu vergnügen. Dennoch langweilt mich kaum etwas, was ich lese, nicht einmal der von mir als langweilig empfundene Text. Auch Langeweile kann Vergnügen bereiten oder ist zumindest aufschlussreich. Zuletzt liebe ich es, schnell zu lesen. Lesend durch Hegels Phänomenologie zu rasen, heißt nicht, dass man am Ende nichts versteht. Es geht ohnehin nicht ums Verstehen im Denken. Eher geht es darum, so zu lesen und so zu denken, dass man nicht mehr versteht, was man denkt und liest. Erst dann hat man eine Erfahrung gemacht. Wie jede Erfahrung, zerstört sie, was ich denke und weiß.
J. Kuhlbrodt: Das heißt aber auch, dass nicht jedes Buch eine Erfahrung hergibt, wenn man sie so emphatisch bestimmt. Was Hegel betrifft, habe ich Teile der Wissenschaft der Logik während meines Studiums in der DDR in der Bibliothek mit Hand abgeschrieben, weil man die Bücher nicht ausleihen konnte. Die Erfahrung, nichts zu verstehen von dem, was man schreibt, war kolossal. Und vielleicht ist diese Form der Entschleunigung, das Gegenteil von dem, was Du von Deiner Lektüre der Phänomenologie berichtest. Meinst du, Verstehen ist ein physischer Prozess, wie das Lesen ja auch zunächst ein physischer Prozess ist, der zuweilen ja auch zu Rückenschmerzen führt?
M. Steinweg Was ich eine Erfahrung nenne, die Erfahrung des Lesens oder des Schreibens sein kann, impliziert Blindheit und Nicht-Verstehen. Sonst wäre es keine Erfahrung. Zur Erfahrung gehört eine gewisse Überforderung. Sie betrifft das Subjekt der Erfahrung und rührt an seine Konsistenz. Das hat nichts mit Pathos oder übertriebener Emphase zu tun. Zum Lesen gehört das Risiko, dass der Akt des Lesens mich nicht unverändert lässt. Etwas passiert mit mir. Ich verliere meine Gewissheiten. Meine Evidenzen verdunkeln sich. Das heißt nicht, dass ich nichts mehr sehe. Ich beginne das bereits Gesehene anders zu sehen. So verändert es sich und ich mich mit ihm. Es gibt keinen psychischen Prozess, der nicht physisch wäre. Psyche und Physis sind, wie wir alle wissen, völlig unzureichende Kategorien, um die Komplexität eines Geschehens zu beschreiben, das unsere immer neu rekonfiguriert.
Vielleicht kann man sagen, dass sich jede Lektüre mit einer gewissen Rücksichtslosigkeit in mein Realitätsverhältnis einschreibt. Nicht jede gleichermaßen. Doch gibt es kein Lesen, dass mich völlig unberührt lässt. Schnell zu lesen, heißt übrigens nicht oberflächlich zu lesen. Es gibt eine Lesepraxis, deren Penibilität zur Oberflächlichkeit verführt und zur Vorstellung einer kaum zu erreichenden Tiefe, die natürlich alles andere als unschuldig ist. Man kann Details nur im hyperbolischen Ausgriff aufs Ganze erfassen. Man versteht das Einzelne nicht, indem man sich an ihm festbeißt. Das Umgekehrte trifft ebenfalls zu. Ich glaube nicht an gerechtes Lesen, wie es der orthodoxe Begriff von Hermeneutik nahelegt. Man muss bereit sein, dem gelesenen Text Gewalt anzutun. Man muss ihn misshandeln, um ihn zu verstehen. Wobei verstehen hier nicht richtig verstehen heißt, sondern eher auf ein produktives Lesen verweist, das neue Anschlüsse fürs Gelesene sucht.
J. Kuhlbrodt: Das heißt, Verstehen ist nicht die Rekonstruktion eines vom Autor Gemeinten, sondern etwas Drittes, das zwischen Leser und Text liegt? Könntest Du das noch ein wenig ausführen? Und siehst du hier einen Unterschied im Verstehen von philosophischen Texten und belletristischen?
M. Steinweg: Zum Verstehen gehört Nicht-Verstehen. Weil ich nicht verstehe, gibt es etwas zu verstehen. Es gibt kein komplettes Verstehen, sowenig es absolutes Nicht-Verstehen gibt. Einen Text zu lesen – und hier ist es zunächst egal, ob es ein literarischer oder philosophischer Text ist; eine Unterscheidung, die als alles andere denn als gesichert gelten kann – bedeutet diese doppelte Erfahrung zu machen: Ich kann nicht vermeiden, nicht zu verstehen, und ich kann nicht verhindern, zu verstehen (oder zumindest etwas zu verstehen). Wir sollten uns nicht von Rigorismen verführen lassen, die behaupten, es gäbe nichts als diese Opposition: Entweder man versteht oder man versteht nicht. Was überhaupt bedeutet verstehen? Muss ich mich einfühlen und wiedererkennen im gelesenen Text? Gehört zum Verstehen die Einsicht in die Differenz zwischen dem Geschriebenen, dem Beschriebenen, dem Behaupteten und Erzählten und mir? Die Auseinandersetzung mit philosophischen Texten impliziert immer auch die Frage nach den Bedingungen und Grenzen des Verstehens. Zunächst ginge es darum, den Begriff des Verstehens zu verstehen, die Geschichte seiner Funktion und seines Gebrauchs zu durchlaufen. Dies müsste in sämtlichen Sprachen geschehen.
Es wäre eine unlösbare Aufgabe, deren Monstrosität uns zumindest eines vermittelt: Wir verfügen über keinen einheitlichen Begriff des Verstehens. Die Forderung, die sich mit dieser fragilen Vokabel verbindet, und dem ihr verwandten Term der Verständigung, öffnet das Denken auf die Hermeneutik, die immer auch Hermeneutik der Hermeneutik sein müsste, exzessive Befragung der Grenzen von Verstehen und Verständigung. Zum Lesen gehört die nicht aufhörende Selbstvermittlung des Lesenden mit den eigenen Grenzen. Lesend rühre ich an die Inkonsistenz meiner Evidenzen. Im Akt des Lesens überschreite ich meine Kompetenzen unentwegt. Entweder wir lesen und affirmieren die Lesen genannte Dynamik als fragwürdigen Exzess unseres Wissens und unserer Kompetenzen, oder wir lesen schlicht nicht, indem wir das Gelesene unmittelbar im Register unserer Gewissheiten rubrizieren.
J. Kuhlbrodt: Du entwickelst einen emphatischen Begriff von Lesen und Verstehen. Was meinem Verständnis entgegenkommt. Daraus ergibt sich für mich die Frage, wie müssen Texte beschaffen sein, auf die dieser Begriff des Lesens anzuwenden ist. Oder schafft sich dieses Lesen den eigenen Text?
M. Steinweg: Es ist der gelesene Text, der das Lesen determiniert. Vor allem wenn wir vorlesen oder lautlesen, werden wir uns dessen bewusst. Klopstock oder Hölderlin lesen wir anders als Brecht. Wenn wir Blanchot ( Thomas l'Obscure zum Beispiel) lesen oder gewisse Texte von Duras (ich denke hier vor allem an Le Ravissement de Lol V. Stein), betreten wir den Raum einer Indefinität, der das Subjekt der Lektüre schwanken lässt. Unser Gleichgewichtssinn bleibt nicht unangetastet durch solche Lektüren. Das gilt für viele Bücher, nicht nur für Literatur. Heideggers Sein und Zeit ist ein Buch, das in einer nahezu komplett neuen Sprache verfasst ist. In diese Sprache muss man sich einlesen, um etwas zu verstehen. Der Moment des Einlesens ist der Moment des Erlernens dieser Sprache.
Es ist wie beim Erlernen einer Fremdsprache: Man versteht und man versteht nicht. Mit der Zeit versteht man besser, dann wieder fast nichts. Zur Lektüre gehört dieses Schwanken, diese Orientierungslosigkeit und dieser Taumel. Das hat mit der Selbstimplikation des Lesenden ins Gelesene zu tun. Es ist, wenn man so sagen kann, die existentielle Dimension des Lesens, die aus ihm eine Erfahrung werden lässt, die immer auch Grenzerfahrung ist, Erfahrung der Grenzen wie Erfahrung der Unbegrenztheit meiner Welt. Warum sollte uns ein Buch oder ein Text weniger berühren, weniger direkt angehen, als ein Film im Kino, der die Affekte des Zuschauers unmittelbar mobilisiert?
J. Kuhlbrodt: Das heißt also, der Text bestimmt – oder verändert zumindest – die Haltung des Lesenden. Der Lesende setzt sich somit aus vergangenen Lektüren zusammen, die sich durch die aktuelle verändern. Kann man das so sehen? Bin ich also bei jedem Text, den ich lese, ein anderer Leser. Das würde mir gefallen.
M. Steinweg: Wir sind unsere Lektüren? Warum nicht? Wir sind auch das Produkt aller Determinanten, die uns am Lesen hindern oder uns zu Lesern machen, die nicht aufhören unserer Text- und Ideengeschichte zu widersprechen, zum Beispiel, indem wir ihre Konsistenz und Kohärenz in Frage stellen, während wir sie nicht verstehen oder anders verstehen als es die Orientierung an einem normativer Begriff von Verstehen vermag. Du nennst meinen Begriff von Lesen und Verstehen emphatisch. Ich wüsste nicht, warum ich Lesen sollte, wenn die Lektüre nicht die Chance hätte, in meine Existenz wie ein Blitz einzuschlagen, mein Leben umzulenken, meine Realität zu rekonfigurieren. Das muss nicht mit einem Mal geschehen. Es gibt Lektüren mit einer sehr langen Inkubationszeit. Wie beim Knacks, von dem Deleuze in Bezug auf Fitzgeralds The Crack-Up schreibt, kann es sich um unmerkliche Risse handeln, die meine Situation schleichend verändern und verschieben. Plötzlich bricht etwas aus mir hervor, ein Satz, den ich zunächst nicht verstehen musste, um ihn jetzt, fünfzehn Jahre nachdem ich ihn das erste mal gelesen habe, zu verstehen. Zu verstehen, im Sinne des Begriffs der Erfahrung, von dem ich sprach. Eine Erfahrung, sagt Derrida einmal, macht aus, dass man etwas riskiert: »Es gäbe sonst keine Erfahrung, ohne das Risiko.« (Auslassungspunkte, S. 211). Mich interessieren Risikolektüren, die den gelesenen Text aufs eigene Leben hin verlassen, auf die Brisanz der Situation, in der ich stecke, auf die Prekarität meines Lebens, auf die Inkonsistenz meiner Hoffnungen und Erwartungen, auf die Leere hin, die ich bin.
J. Kuhlbrodt: Lieber Marcus, danke für das Gespräch.
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