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Lew SchestowSiege und NiederlagenVersuch über Schestow II Essay (2)
→ Versuch über Schestow – 1. Teil
Der Zeitgenosse Das Buch Siege und Niederlagen wird durch ein Reihe Philosophischer Fragmente beschlossen. Einige davon führen Gedanken an, beginnen mit deren Entwicklung, andere verhalten sich eher aphoristisch. Ein Lesevergnügen bergen sie alle. Das Fragmentarische scheint mir ein genuiner Ausdruck von Schestows Denkens zu sein, dabei lässt er die Romantik allerdings hinter sich, man könnte sagen: im Orkus verschwinden. Das Rätsel ist hier kein Zauber und auch kein Unvermögen des Erkennens, sondern strukturelles Moment und Resultat der Weltzuwendung. Unter den Fragmenten findet sich auf 330 Folgendes: Die moderne wissenschaftliche Philosophie hat sich von den Mythen losgesagt, um so häufiger muss sie Zuflucht zu Metaphern nehmen, doch was ist eine Metapher anderes, als ein kostümierter Mythos? Kostümiert mit Alltagskleidung. Diese Sätze sind erstaunlich, stellen sie Schestow doch als poststrukturalistischen Zeitgenossen dar. Allerdings ist mit dergleichem Label dem Autor nicht beizukommen. Wir werden an anderer Stelle an Schestows Rettung der Ratio zurückkommen. Aber das ist ein philosophisches Problem, das mir eine andere Disziplin abverlangt, als dieses Flanieren durchs Schestows, dass ich an dieser Stelle unternehme und durch das ich gewissermaßen erst einmal Geruch aufnehme. Selten habe ich kompromisslosere und auf eine gewisse Weise respektlosere Art über Dostojewski gelesen wie bei Schestow, Dostojewski, der nicht nur in Russland, sondern gerade auch in Nordamerika eine Ikone ist. Er stellt ihn in einen narzisstisch- Mit Begeisterung greift er die Idee der Eigenständigkeit auf. Tatsächlich sollte man die Tataren, sagt er, aus politischen, staatlichen und anderen derartigen Erwägungen (ich weiß nicht, was es mit den ›anderen‹ auf sich hat, doch wenn ich von Dostojewski Worte wie ›staatlich‹, ›politisch‹ u. dgl. höre, kann ich nur noch ungehemmt kichern) unbedingt hinausdrängen und auf ihrem Grund und Boden Russen ansiedeln. ... Aus diesen lachhaften und hoffnungslos widersprüchlichen Behauptungen läßt sich nur eins herausspüren: Dostojewski hat von Politik keine, aber wirklich keine Ahnung, er versteht nicht das geringste davon, und außerdem hat er mit Politik auch gar nichts am Hut. Diese Passagen stammen aus dem Essay über Fjodor Dostojewski, dessen Titel mich in eine ganz andere Richtung fürchten ließ. Nachdem Schestow also in Dostojewski – Prophetengabe den Autoren in der Talkshow hat beobachten können, und ihn verabschiedet hat als Ratgeber in Sachen Politik, finden wir ihn jetzt (Dostojewski aber auch den Autor selbst) im Zwiegespräch mit Hegel, Kant oder besser mit der Vernunft und der Vernunftphilosophie, an deren Grenzen die Erfahrung uns immer wieder führt. Von beiden Seiten übrigens. Schestow zeigt, wie Dostojewski der Hegelschen Philosophie misstraut, wie Kierkegaard sich ihr entwindet. Unsere Vernunft strebe, sagt Kant, begierig nach dem Allgemeinen und Notwendigen, Dostojewski wiederum, inspiriert von der Schrift, verwendet all seine Kräfte darauf, sich der Macht des Wissens zu entwinden. Verzweifelt bekämpft er, wie Kierkegaard, spekulative Wahrheit und menschliche Dialektik, für die „Offenbarung“ bloße Erkenntnis ist. Wenn Hegel von „Liebe“ spricht – und Hegel spricht von „Liebe“ nicht weniger als von Einheit der göttlichen und menschlichen Natur –, sieht Dostojewski darin einen Verrat: Verraten werde das göttliche Wort. „Ich behaupte,“ so schreibt er in seinen letzten Lebensjahren im „Tagebuch eines Schriftstellers“, “dass das Bewusstsein des eigenen vollkommenen Unvermögens, der leidenden Menschheit zu helfen oder ihr zumindest irgendwie nützlich zu sein – und dies bei gleichzeitiger vollkommener Einsicht in ihre Leiden –, in unserem Herzen die Liebe zur Menschheit sogar in Hass verwandeln kann. Markige Worte an der Schwelle zum 20. Jahrhundert. Aber die Geschichte ließ auf das philosophisch zumindest in Kontinentaleuropa durch Vernunftsglauben und Hegelianismus dominierte 19. Jahrhundert das 20. folgen. in dem sich die industriell entfalteten produktiven Kräfte in die zerstörerischsten verwandelten, die die Erde bis dahin kannte. Darüber hinaus ist die hier zitierte Arbeit Schestows eine zwingende Einführung der Existenzphilosophie: Wie bei Belinskij wird also auch hier Rechenschaft gefordert für jedes einzelne Opfer des Zufalls in der Geschichte, d.h. für etwas, das in seiner Ereignishaftigkeit und Endlichkeit in der spekulativen Philosophie prinzipiell keine Bedeutung erhält, für etwas, dem niemand in der Welt – das weiß die spekulative Philosophie mit Bestimmtheit – abzuhelfen vermag. Und da sind wir auf Freiheit noch gar nicht zu sprechen gekommen.
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Jan Kuhlbrodt
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