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Lew Schestow

Siege und Niederlagen

Versuch über Schestow II
Essay (2)

→  Versuch über Schestow – 1. Teil
→  Versuch über Schestow – 3. Teil

  Lew Schestow
Siege und Niederlagen:
Für eine Philosophie der Literatur
Übersetzt und heraus­gegeben und mit einem Vorwort versehen von Felix Fillipp Ingold
Matthes & Seitz 2013


Der Zeitgenosse

Das Buch Siege und Niederlagen wird durch ein Reihe Philosophischer Frag­mente beschlos­sen. Einige da­von füh­ren Gedan­ken an, beginnen mit deren Ent­wicklung, andere verhalten sich eher apho­ris­tisch. Ein Lese­ver­gnü­gen bergen sie alle. Das Frag­menta­rische scheint mir ein genuiner Aus­druck von Schestows Den­kens zu sein, dabei lässt er die Roman­tik aller­dings hinter sich, man könnte sagen: im Orkus ver­schwin­den. Das Rätsel ist hier kein Zauber und auch kein Unver­mögen des Erken­nens, sondern struk­turel­les Moment und Resultat der Welt­zu­wendung. Unter den Fragmenten findet sich auf 330 Folgendes:
  Die moderne wissen­schaftl­iche Philo­sophie hat sich von den Mythen los­gesagt, um so häu­figer muss sie Zuflucht zu Meta­phern nehmen, doch was ist eine Meta­pher anderes, als ein kostümierter Mythos? Kostü­miert mit All­tags­klei­dung.
  Diese Sätze sind erstaunlich, stellen sie Schestow doch als post­struktu­ralis­ti­schen Zeit­genos­sen dar. Aller­dings ist mit der­gleichem Label dem Autor nicht beizu­kommen. Wir werden an anderer Stelle an Schestows Rettung der Ratio zu­rück­kom­men. Aber das ist ein philo­sophi­sches Problem, das mir eine andere Diszi­plin abver­langt, als dieses Flanieren durchs Schestows, dass ich an dieser Stelle unter­nehme und durch das ich gewisser­maßen erst einmal Geruch aufnehme.
  Selten habe ich kompromiss­losere und auf eine gewisse Weise respekt­losere Art über Dostojewski gelesen wie bei Schestow, Dostojewski, der nicht nur in Russ­land, sondern gerade auch in Nord­amerika eine Ikone ist. Er stellt ihn in einen narziss­tisch-politi­schen Kon­text, wie wir es heute nur von der Selbst­beleuch­tung eines Günter Grass kennen. Und er nimmt damit etwas von dem vorweg, wie ein Schrift­steller durch den medialen Diskurs der Öffent­lich­keit geistert:
  Mit Begeisterung greift er die Idee der Eigen­ständigkeit auf. Tatsächlich sollte man die Tataren, sagt er, aus politi­schen, staatlichen und anderen der­artigen Er­wägun­gen (ich weiß nicht, was es mit den ›anderen‹ auf sich hat, doch wenn ich von Dostojewski Worte wie ›staatlich‹, ›politisch‹ u. dgl. höre, kann ich nur noch unge­hemmt kichern) unbedingt hinaus­drängen und auf ihrem Grund und Boden Russen ansiedeln. ...
  Aus diesen lachhaften und hoffnungslos wider­sprüchlichen Behauptungen läßt sich nur eins heraus­spüren: Dostojewski hat von Politik keine, aber wirklich keine Ahnung, er versteht nicht das geringste davon, und außerdem hat er mit Politik auch gar nichts am Hut.

 

Diese Passagen stammen aus dem Essay über Fjodor Dostojewski, dessen Titel mich in eine ganz andere Richtung fürchten ließ. Nach­dem Schestow also in Dosto­jewski – Propheten­gabe den Autoren in der Talkshow hat beo­bach­ten können, und ihn verab­schie­det hat als Rat­geber in Sachen Politik, finden wir ihn jetzt (Dosto­jewski aber auch den Autor selbst) im Zwie­ge­spräch mit Hegel, Kant oder besser mit der Ver­nunft und der Vernunft­philo­sophie, an deren Grenzen die Erfah­rung uns immer wieder führt. Von beiden Sei­ten übri­gens. Schestow zeigt, wie Dosto­jewski der Hegelschen Philo­so­phie miss­traut, wie Kierke­gaard sich ihr entwindet.
  Unsere Vernunft strebe, sagt Kant, begierig nach dem Allgemeinen und Notwendigen, Dostojewski wiederum, inspiriert von der Schrift, verwendet all seine Kräfte darauf, sich der Macht des Wissens zu ent­winden. Ver­zweifelt bekämpft er, wie Kierke­gaard, spekulative Wahrheit und mensch­liche Dia­lektik, für die „Offen­barung“ bloße Erkennt­nis ist. Wenn Hegel von „Liebe“ spricht – und Hegel spricht von „Liebe“ nicht weniger als von Einheit der gött­lichen und mensch­lichen Natur –, sieht Dostojewski darin einen Verrat: Verraten werde das göttliche Wort. „Ich behaupte,“ so schreibt er in seinen letzten Lebens­jahren im „Tagebuch eines Schrift­stel­lers“, “dass das Bewusst­sein des eigenen voll­kommenen Unver­mögens, der leidenden Mensch­heit zu helfen oder ihr zumindest irgend­wie nützlich zu sein – und dies bei gleich­zeitiger voll­kommener Einsicht in ihre Leiden –, in unserem Herzen die Liebe zur Mensch­heit sogar in Hass verwandeln kann.
  Markige Worte an der Schwelle zum 20. Jahr­hundert. Aber die Geschichte ließ auf das philosophisch zumindest in Kon­tinental­europa durch Vernunftsglauben und Hegelia­nismus dominierte 19. Jahr­hundert das 20. folgen. in dem sich die indus­triell entfalteten produk­tiven Kräfte in die zerstö­reri­schst­en ver­wandel­ten, die die Erde bis dahin kannte. Darüber hinaus ist die hier zitierte Arbeit Schestows eine zwingende Einführung der Existenz­philo­sophie:
  Wie bei Belinskij wird also auch hier Rechenschaft gefordert für jedes einzelne Opfer des Zufalls in der Geschichte, d.h. für etwas, das in seiner Ereig­nishaftigkeit und Endlich­keit in der speku­lativen Phi­lo­sophie prinzi­piell keine Bedeu­tung erhält, für etwas, dem niemand in der Welt – das weiß die speku­lative Philo­so­phie mit Bestimmtheit – abzuhelfen vermag.
  Und da sind wir auf Freiheit noch gar nicht zu sprechen gekommen.

 

Jan Kuhlbrodt    10.07.2013   

 

 
Jan Kuhlbrodt
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