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Versuch über Ingold (2. Teil)

Vom Abtragen der Monumente oder das Wesen der Chronologie

Über Felix Philipp Ingold (2)

→  Versuch über Ingold – 1. Teil
→  Versuch über Ingold – 3. Teil

  Felix Philipp Ingold
Alias
oder Das wahre Leben
Matthes & Seitz, Berlin 2011


I

Die Anführer der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution, die aufgrund einer Kalenderanpassung im Nachhinein im November gewesen ist, wurden uns unter ihren Decknamen vorgestellt, also nicht als Uljanow und Tschugaschwilli, sondern als Lenin und Stalin.
Ihre Klarnamen hatten sie in der Illegalität abgelegt; und dass sie bei ihren Decknamen blieben, auch nachdem sie die Staats­macht übernommen hatten, hatte Methode.
Dieses Motiv zieht sich letztlich durch den Roman Alias, auch wenn der Held alles andere als ein Führer ist. Er ist ein sowjeti­scher Schrift­steller, der versucht, den gesell­schaftlichen Maßgaben, die an ihn durch Partei und Schrift­steller­verband an ihn heran­getragen werden, gerecht zu werden. Über weite Strecken versteht er sich als sozialis­tischer Realist und baut in diesem Sinne die Geschich­ten der Werk­tätigen in Helden­geschichten um. Unter anderem schreibt er unter dem Pseudonym Choloschow die Novelle „Ein Menschenlos“.

Ich bin in einem sozialistischem Land auf­gewachsen und in eine Sozialis­tische Schule ge­gangen. Und zum sozialis­tischen Kanon in der Lite­ratur gehörte neben Ostrowskis „Wie der Stahl gehärtet wurde“ Scholochows „Ein Menschen­schicksal“. Für uns Schüler gab es eine zentrale Stelle in diesem Buch. Zwei Sowjet­soldaten stehen am Waldrand und nur einer von ihnen hat nur eine Zigarette. Er bricht sie in der Mitte durch und gibt eine Hälfte dem Kampf­genossen mit den Worten: „Alleine Rauchen ist wie alleine Sterben.“ Das wurde zum geflü­gelten Satz in der Klasse, wenn einige von uns in der großen Pause hinter der Turn­halle verschwanden.

II

Die Geschichte der Sowjet­union begann mit einem Putsch. Der Zar hatte im Februar 1917 abgedankt, und eine provisorische Regierung unter der Führung des Sozial­demo­kraten Kerenski hatte die Führung über­nommen. Dem standen die so­genann­ten Maxi­ma­listen gegenüber, die keine bürger­liche Demo­kratie akzeptierten und gleich ins Arbeiter­paradies wollten. Auf einem Kon­gress der Sozial­demo­kratischen Partei Russ­lands konsti­tuierten sich dies Maxi­malisten auf Grund eines Ab­stim­mungs­ergeb­nisses als Bolschewiki (Me­hr­heit­liche) und im Oktober (oder Novem­ber) 1917 führten sie einen Staats­streich durch. Nicht ganz geplant, Lenin war noch im finnischen Exil, wurde aber bald zurück­geholt.
Aus Russland wurde die Sowjet­union, ein sich ständig erwei­terndes Ko­lonial­reich, das an seinem Höhe­punkt und Ende ca. ein Fünftel der Welt bedeckte und in dessen west­lichs­ten Zipfel, einer autonomen Republik, die sich selbst deutsch und demo­kra­tisch nannte (ein Deckname?), wuchs auch ich auf.

III

Der Roman Alias setzt ungefähr in der Mitte der Zeit ein, die dem roten Weltreich beschieden war, und er beginnt mit einem Mord. Soldaten auf einem Vorposten nehmen einen deutschen Aufklärer gefangen, ersuchen ihn zu verhören, bewundern seine gute Ausrüstung, haben aber keinen Kontakt zur nächsten Truppe, müssten also ihre ohnehin knappen Vorräte mit ihm teilen. Also bringen sie ihn um.
Berger, der hier Beregow heißt, erhält den Auftrag den Deut­schen zu erschießen. Shon am Beginn also, und unter dem Druck der Umstände, wie man immer recht­fertigen wird, erlischt der mora­lische Anspruch der späteren Befreier.*

„Der grausamste Monat ist der April, er ist aber auch der lächer­lichste, der lieblichste. Nicht anders – also wie üblich – wars im Kriegs­jahr 1942.“
Im Folgenden begleiten wir Berger alias Beregow durch die res­tlichen Jahre des Krieges, durch den Stali­nismus, ins Lager durchs Tauwetter, nach Israel, bevor sein Leben nach Aufenthalt am Bodensee auf einem Ausflug in die Gedenkstätte des KZ Maut­hausen endet.
Berger war als Soldat Beregow an dessen Befreiung bete­iligt bzw. fast, die Ameri­kaner hatten das Lager befreit, und die Rus­sen stießen später dazu. Berger arbeitet als Über­setzter und lernt dort seine spä­tere Frau kennen, die als Häftling im Foto­studio des Lagers tätig war und in einer Wider­stands­gruppe arbeitete, die es sich zum Auftrag gemacht hatte, die Ver­brechen der Nazis zu do­kumen­tieren.

Alias ist ein Roman voller Scharaden. Bergers Frau verliebt sich in einen ehe­maligen Häftling aus dem Gulag, der auch ein ehemaliger Frontkamerad ist. Sie verlässt Berger, der später aufgrund einer Denunziation selbst ins Lager einfährt. So biegt sich die Geschichte im Grunde immer wieder auf Anfang, und wie die reale Geschichte der Sowjet­union mit einem Putsch beginnt, und Bergers Geschichte mit einem Mord, erlauben beide im Grunde keinen Ausgang. Sie müssen auf sich selbst zurückgeworfen, enden und Russland findet in einen Vorrevolutionären Zustand zurück. Das ist natürlich keine Erlösung, aber es ist eine Befreiung vom Erlösungs­versprechen.
Erzählt wird aus Hinter­lassen­schaften. Dieser Roman ist Archäo­logie und Re­kon­struk­tion. Eine Welt von ihrem Ende her betrach­tet.

Ich weiß nicht ob das Buch für mich zum richtigen Moment kam. Ich habe lange Zeit gebraucht, um meine eigenen Gedanken aus der Umklam­merung der Ideo­logie zu lösen. Wahr­schein­lich hätte ich es vor 20 Jahren gar nicht gemocht und kaum verstanden. Man muss frei sein, denke ich, um diese Kunst zu genießen. Aber es ist ein groß­arti­ges Buch, das letzt­lich die theatra­lische Dramatik des 20. Jahr­hun­derts wenn nicht auf den Punkt, so doch in eine Kugel bringt. Und da haben wir über die Sprache, die den Roman trägt, noch gar nicht ge­sprochen.

____________

* An dieser Stelle sei kurz auf Heiner Müllers „Wolokolamske Chaussee“ verwiesen. Im Eingangs­text (Wald bei Moskau) der auf dem gleichlautenden Roman des wenig regimekritischen sowjetischen Autors Alexander Bek zurück­geht, wird dargestellt, wie ein rus­sischer Offizier junge Deser­teure im Traum nicht hin­richten lässt. Als er aus dem Traum erwacht, wird die Hinrichtung vollzogen.

 

Jan Kuhlbrodt    01.11.2012   

 

 
Jan Kuhlbrodt
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