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Versuch über Ingold (1. Teil)Vom Abtragen der Monumente oder das Wesen der ChronologieÜber Felix Philipp Ingold (1)
→ Versuch über Ingold – 2. Teil
I Felix Philipp Ingold ist ein Autor, dem ich nicht ausweichen kann. Ich habe mich nicht darum bemüht, und es wäre müßig, denn es scheint, als würden er oder seine Texte oder seine Übersetzungen ganz unvermittelt vor mir erscheinen, in Momenten von Plötzlichkeit, die der Zeit den Grund nehmen. Es ist nicht so, dass ich danach greife, weil ein Thema gerade aktuell für mich wäre, nein, im Grunde glaubte ich einiges abgelegt und gegessen zu haben. Ein Fehler! Anfang der Neunziger kam ich, um meine Schwester zu besuchen nach den Niederlanden. Sie studierte in Delft Architektur, und mich faszinierte die Ballung der holländischen Stadt. Den Haag, Delft, Rotterdam wie an einer Kette an einer Trambahnlinie aufgereiht. Und der Ausflug nach Amsterdam natürlich war Pflicht. Und zu diesem Aufenthalt gehörte auch ein Besuch in der Buchhandlung Boeki Woeki. Ich war, obgleich ich meinte, das hinter mir gelassen zu haben, noch ganz im Modus des Schatzsuchers. In der DDR, in der ich aufwuchs, verbrachte ich einen Großteil meiner Jugend damit, durch die Antiquariate zu streifen auf der Suche nach raren Texten. Es war keine Bibliophilie, die Auflage oder die Ausstattung des Bandes interessierte nicht. Es war die Gier nach geronnener fremder Welt und Erfahrung. Denn der Osten war ein Käfig, und manches Buch war wie frisches Grün, das uns durch die Gitter gereicht wurde. Aber zurück nach Amsterdam und in den Boeki Woeki. In einem Stapel von Büchern entdeckte ich Folgendes: Felix Philipp Ingold. Ausgesungen. Mit einer Übersetzung ins Russische von Ilya Kutik und einem Begleitwort von Gennadij Aigi. Erschienen war das Ganze im Berliner Rainer Verlag, den ich natürlich bis dahin auch nicht kannte. Die russische Übersetzung des Titels heißt После голоса, was man mit gutem Gewissen auch mit „Nach der Stimme“ zurückübersetzen könnte. Ich fand das einzigartig, zumal ich nur die entgegengesetzte Übersetzungsrichtung kannte und wir in der Schule zumindest vor der Ära Gorbatschow mit sowjetischer Literatur geradezu zugeschüttet worden. Allerdings war kein Titel von Aigij dabei. Aber Arsenij Tarkowski in einem Poesiealbum, also einem kleinen Heftchen, das einen Autor kurz vorstellt. Bei Ingold fand ich folgenden Text der mich daran erinnerte: Kurz und gut, eben war da noch ein U zu sehn Im Rückspiegel nimmt die Zukunft schneller zu. Die Sehne sucht in ihrer Schwingung Halt. So wie die Axt im Nacken des Bruders. Aber kein Abel Dieser Text holte mich gewissermaßen da ab, wo ich stand. Auf dem Sprung in eine Zeit, die die Vorsilbe Post- bis zur Erschöpfung gebrauchte, um sich die Illusion zu verschaffen, sich von Geschichte befreit zu haben. II Im letzten Jahr begegnete mir der Übersetzer Ingold in verschiedener Form mit Büchern die mich höchst beeindruckt haben. Es waren jeweils Publikationen mit einem gewissen Russlandbezug. Zum einen waren das die im Verlag Mathes und Seitz erschienenen Gefängnistagebücher von Boris Vildé. Der russischstämmige Franzose erwartet das Urteil durch die deutschen Besatzer, das, weil er die Resestance organisiert und eine Zeitschrift mit gleichem Namen herausgegeben hatte, nur den Tod bedeuten könnte. Aber Vildé nimmt das Urteil oder besser die Vollstreckung keinesfalls vorweg, sondern arbeitet im Gefängnis an seiner Vervollkommnung als Mensch. Er liest, rezipiert, schreibt, nutzt jede Möglichkeit zu leben. Es entsteht ein eindringliches Dokument der Zivilisiertheit angesichts faschistischer deutscher Barbarei.
Zum Anderen erschien bei Dörlemann die Anthologie Als Gruß zu lesen. Wie schon in Ingolds Gedichtband Wortnahme. Jüngste und frühere Gedichte, auf die später gesondert einzugehen sein wird, versammelt Ingold hier Gedichte und ordnet sie entgegengesetzt der Chronologie an. Gewissermaßen wie ein Keil gräbt sich das Buch in zweihundert Jahre russischer Dichtungsgeschichte. Die Verschiedenen Ablagerungen werden durch Dichtungen unterschiedlicher Qualität repräsentiert. Gegenstand der Sammlung ist also keine Perlenlese, sondern eher eine Evolutionäre Abfolge. Auf diese Vorgehensweise wird in Zusammenhang mit Ingolds Roman Alias zurückzukommen sein.
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Jan Kuhlbrodt
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