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Olga Martynova
Mörikes Schlüsselbein
Die Geburt eines Schriftstellers
Ernsthaft und verspielt: Olga Martynovas Roman Mörikes Schlüsselbein
Kritik |
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Olga Martynova
Mörikes Schlüsselbein
Roman
Literaturverlag Droschl 2013
320 Seiten, 22.00 Euro |
In seinem Essay „Über das Marionettentheater“ schreibt Kleist, wolle der Tänzer überzeugend sein, müsse er einen gewissen Punkt im Körper finden und jenem von dort ausgehenden Impuls folgen. Dann würde alles ganz leicht, der Künstler schwebe anmutig über die Bühne. Die russisch- deutsche Schriftstellerin Olga Martynova greift diese Idee auf, macht sie regelrecht zum poetologischen Konzept. In ihrem zweiten Roman „Mörikes Schlüsselbein“, der soeben bei Droschl erschienen ist, geht es um das Schreiben und um die Souveränität der Literatur, die bei Martynova schlichtweg alles ist und sein darf: phantasievoll, realistisch, intelligent, lebendig und poetisch. Ganz locker fließen der 1962 in der Nähe der sibirischen Stadt Karsnojarsk geborenen Autorin die Zeilen übers Papier. Das kann entstehen, wenn jemand seiner Intuition vertraut, sich von ihr führen lässt. Heraus kommt etwas Erstaunliches, das aus der literarischen Mode zu sein scheint. Martynova pfeift auf eine perfekte und zuweilen blutleere Konstruktion, vertraut lediglich ihrer starken, inneren Stimme. Für das Kapitel „Ich werde sagen: Hi“ aus dem aktuellen Roman wurde ihr der Ingeborg-Bachmann-Preis 2012 verliehen. Nun stand das Buch auch auf der Liste zum Leipziger Buchpreis.
Marina arbeitet bei einem Kulturfond und schreibt an einem Buch über Daniil Charms, ihr Mann Andreas arbeitet an der Uni und schreibt an einem Buch über Deutsche in St. Petersburg. Moritz ist eines der Kinder aus Andreas' erster Ehe. Zusammen fahren sie nach Tübingen und stehen vor einem Knochen in einer Vitrine, angeblich handele es sich hierbei um Mörikes Schlüsselbein. „In diesem Schlüsselbein ist die dichterische Kraft eingeschlossen.“ Der Knochen löst etwas in Moritz aus, plötzlich verschwimmen ihm Realität und Phantasie. Er „sieht aus dem halbrunden weißen Hölderlinzimmer nach unten: Schwäne. Neckar. Weiden. Trunkene Schwäne, denkt er, trunkene Schwäne. (...) Getrunkene Schwäne, klar im Neckar gespiegelt, doch kannst du dir nie das Wasser zusammen mit dem schöpfen, was du so deutlich siehst, keinen Schwan trinken, keinen sich küssenden Schwan trinken. Untrinkbare Schwäne.“ In erster Linie ist dieses Buch ein Entwicklungsroman. Moritz' Selbstfindung steht im Zentrum des Romans, in dem es ansonsten an allen Ecken rauscht und funkelt. Martynova reist durch Traum und Zeit, Erinnerungen und Realität, nach Petersburg, vorbei an Neckarlandschaften und zum Frankfurter Flughafen, man lernt Familien und ihre Schicksale kennen, reist nach Amerika und in die russische Taiga, in der sich eine Nebengeschichte um Agenten und Spione entwickelt.
Viel Stoff und unendliche verspielte Einfälle. Den Überblick zu behalten, ist zuweilen schwierig. Das liegt einerseits an der Struktur des Romans, dessen Kapitel als abgeschlossene Miniaturgeschichten angelegt sind. Zum anderen liegt es daran, dass Martynova ihre Leser die Geburt eines Schriftstellers mitlesen lässt. Und so ein Prozess folgt nun einmal nicht kausalen Mustern. Die Autorin liebt denn auch alles, was kreativ anmutet. Einschübe, Gedankensprünge, Kursivsetzungen, zahlreiche grau statt schwarz gedruckte Textstellen, Wohnungsgrundrisse bestehend aus Wörtern, Seiten im Typoskript einer Schreibmaschine gedruckt, durchgestrichene Buchstaben, oder ein ganzes Kapitel mit in Klammern gesetzten Adjektiven, dazu dann jene versponnene und zuweilen rätselhafte inhaltliche Ebene des Textes. Irgendwann reicht es, Buch zuklappen, Pause. Der Autorin geht die Bodenhaftung flöten und dem Leser schwindelt. Das kann einem mit diesem Roman eben leider auch passieren. „Kurzschluss der Wahrnehmung. Ihr war übel von bunten Fäden und Stäben, besonders von den surrenden und blitzenden Bildschirmen, und schwindlig von den Linien und Farben. Die Kunst erwies sich für sie augenblicklich als ein endliches Phänomen, ausgeschöpft und im Leerlauf rotierend.“
Doch es gibt rote Fäden, seien es Farbkombinationen, die immer wieder auftauchen, Vogelknochenkörper, braunhaarige Mädchen und Mumien, Vagabunden in schwarzen Mänteln oder Katzen. „Eine farblose Nachtweide schob ihre Tränen auseinander und eine dreibeinige Katze, unbestimmt fleckig, wie von Sandpapier geschrubbt, kam heraus.“ Martynovas erzählerische Leichtigkeit, ihr feiner Humor und vor allem ihre Freude am phantastischen Text lassen die literarische Tradition der russischen Heimat deutlich erkennen. Gogol und Bulgakov schauen ihr über die Schulter, während Martynova eine literarische Welt erschafft, die sich von jeglicher Spießigkeit abgrenzen will. Seit 1991 lebt die Autorin mit ihrem ebenfalls schreibenden Mann Oleg Jurjew in Deutschland. Bis heute verfasst sie ihre Prosa in deutscher Sprache, ihre Gedichte jedoch in ihrer Muttersprache Russisch. Dass sie eben auch Lyrikerin ist, merkt man dem Roman durchweg an: Die Liebe zum sprachlichen Verdichten, zum besonderen Blick auf die Dinge. „Die Teile ändern ihre Formen und verrutschen. In der Mitte des Lebens wird aus der Kuh ein Fabeltier, das dich vorwurfsvoll anschaut. Im Winde klirrend.“
Olga Martynova hat hohe Ansprüche. Sie vertraut ihrem Leser und fordert ihn heraus, sich mit ihr gemeinsam auf das Wagnis des Schreibens einzulassen. Was bedeutet Intuition, wie entsteht Literatur, was ist ein Roman? Zentrale Fragen in Martynovas Buch, welche die Autorin gemeinsam mit dem Leser verhandelt. Das Leben, die Erinnerungen, die Zeit, die Beschreibung all dessen: „Jede Beschreibung ist falsch“, heißt es zu Beginn. Es gibt keinen richtigen oder falschen Roman. Es gibt nur eine Fülle an Möglichkeiten. Olga Martynova schöpft diese Möglichkeiten voll aus. Sie legt sich keinerlei Schranken auf und zeigt dadurch, was Literatur sein kann und sein darf. Sie ist autonom und frei. Der (mutige) Leser profitiert davon.
Zuerst veröffentlicht in der Freitag, 2013
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