|
|
Oleg Jurjew
Halbinsel Judatin
Ein zerfallendes System unter dem Poesieoskop
Oleg Jurjews Halbinsel Judatin
Kritik |
|
|
|
Oleg Jurjew
Halbinsel Judatin
Übersetzt von Elke Erb unter Mitwirkung von Sergej Gladkich
Jung und Jung Verlag, Salzburg 2014
|
Wie lange Elke Erb wohl gebraucht hat, um dieses phantastische Buch aus dem Russischen ins Deutsche zu bringen? Allein schon für die Lektüre waren in meinem Fall mehrere Wochen nötig. Zunächst nämlich erwies sich meine gewohnte Lesegeschwindigkeit als viel zu schnell für diesen Text; es wollte und wollte kein klares Bild entstehen. Erst, als ich mein tägliches Lesepensum auf wenige Seiten reduzierte, tat sich die extreme Tiefenschärfe von Oleg Jurjews Roman vor mir auf: seine Sprache ist nichts anderes als ein poetisches Mikroskop. Wer bereit ist, immer und immer wieder einen Blick hindurch zu tun, wird von Halbinsel Judatin fasziniert sein, denn die Petrischale, die darunter steht, ist voll von den wunderlichsten Wesen. Sie sind allesamt quicklebendig, obwohl der Autor sie im Spätwinter eingesammelt hat, im kalten sowjetischen Winter 1985 noch dazu.
Es herrscht gerade ein kurzes „Interregnum“, denn nach den Gerontokraten Breschnjew und Andropow ist auch Tschernenko gestorben. Ein gewisser Gorbatschow schickt sich an, Generalsekretär zu werden, damals ein weitgehend unbekannter Funktionär, der nicht nur Hoffnungen, sondern auch Ängste weckt: Was, wenn er die Deportationszüge wieder rollen lässt? Man weiß ja nie, besonders, wenn man jüdischen Glaubens ist oder sich zumindest daran erinnert, „hebräische“ Vorfahren zu haben. Das nämlich ist bei den beiden Jungen der Fall, die Jurjew ineinander verschränkte Fiebermonologe halten lässt. Beide liegen sie in einem noch zur Zeit Peters des Großen errichteten „Packhaus“ darnieder, ohne viel voneinander zu wissen. Das Packhaus, in dem Proviant für die russische Armee gelagert wurde, steht auf militärischem Sperrgebiet in der Nähe von Wyborg an der Ostsee. Unterirdische Gänge durchziehen die Gegend, sie führen vom Packhaus bis zur orthodoxen Kirche und zum Stützpunkt der Sowjetischen Marine, einer Ansammlung verschlampter Baracken. Eine davon ist ein Kino, in dem täglich der immer gleiche Film mit Marylin Monroe gezeigt wird, und wann auch immer das Radio aufgedreht wird, ist die unverwüstliche Alla Pugatschowa mit dem immer gleichen Schlager zu hören, kurz: Das sichtbare Leben in der späten Sowjetunion ist geprägt von öder Wiederholung und Langeweile, unterirdisch aber verlaufen die halb geheimen, halb kloakigen Gänge der Geschichte, von denen sich nicht sagen lässt, was oder wer daraus auftauchen wird.
Einer der beiden namenlosen Jungen hat den Tunnel zur Kirche schon mehrmals benutzt. Aus der Tiefe hervorsteigend, hat er dem Popen ein „Heiliges Buch“ stibitzt, das nun, da es auf Pessach zugeht, von allen „irrgläubigen Teilen“ gereinigt wird. Die Großmutter des Jungen, die als Hüterin kryptojüdischer Rituale fungiert, liest aus diesem Buch, während ihr Enkel vor sich hinfiebert. Erst vor einigen Tagen ist er beschnitten worden, und sein schmerzendes Geschlecht erinnert ihn immer wieder daran, dass er nun ein Mann ist und das Oberhaupt einer Familie, die schon seit Generationen auf der Halbinsel Judatin wohnt. Es ist ein reichlich altkluges Bürschchen, das sich da anmaßt, wild zwischen Vergangenheit und Gegenwart hin- und herzuspringen, und das in einer Sprache, die manchmal eines Propheten würdig wäre.
Wie lange Elke Erb wohl gesessen ist, bis sie den alttestamentarisch- wuchtigen Ton so gekonnt auf Deutsch zu verschnoddern vermocht hat, wie ihr Jurjew das vermutlich auf Russisch vorgemacht hat? Einmal zum Beispiel stellt sich der Junge vor, dass das Volk Israel wieder in große Bedrängnis gerät: „Alarm! Alle Mann an Deck: das große Buch nehmen, die türkische Blechdose mit den Dokumenten (…), die Ziege packen bei den Hörnern, wenn sie bockt, und in diesen einstigen Enelströmschn Huren-Schlupf am Pechojóla-See türmen zur Rettung des Volkes. Ob Oma Raja da mitmachen wird?“
An einem stillen Waldsee nämlich steht eine Hütte, geheimer Rückzugsort seiner Sippe. Oft und oft ist den Juden im Lauf der Geschichte angelastet worden, christliche Kinder entführt zu haben, um sie ihrem Gott auf grausige Weise zu opfern. Und nun scheint ausgerechnet der Junge jener Petersburger Urlauberfamilie verschwunden zu sein, die sich im Packhaus einquartiert hat. Allein, der beschnittene Junge macht sich vergebens Sorgen. Der Abkömmling der Urlauberfamilie plagt sich nur ein paar Meter unter ihm mit einer Angina und mutmaßt seinerseits, ob der „Stift“ der Judatins nicht auf geheimnisvolle Weise verschwunden sei.
Seine Ängste sind allerdings weniger konkreter Natur. Er und seine Familie, die Jasytschniks, stehen für ein weitgehend assimiliertes Judentum, das die gleichen Sorgen und Nöte hat wie andere Sowjetbürger auch. Die jüdische Herkunft ist ihnen nicht mehr als ein Hintergrundgeräusch, das nur noch in außergewöhnlichen Situationen wahrgenommen wird. Auch der Junge der Jasytschniks zeigt sich als hochbegabt zum inneren Monolog, der in seinem Fall freilich weniger archaisch ausfällt. Immer wieder schweifen seine Gedanken zurück in die Großstadt, in seine Schule, in sein Viertel. Einmal erinnert er sich an den langen Flur der Gemeinschaftswohnung seiner Kindheit, an dessen „dunklen, mit Licht unterstrichenen Türen, vorbei an all den ins Düster strahlenden Schlüssellöchern“ ein Wesen mit Wolfsgesicht auf das Zimmer der Jasytschniks zuschleicht. Diese Angstphantasie verklammert Jurjew mit den Kurzbiographien all jener Kommunalka-Bewohner, die hinter diesen dunklen Türen hausen, und das auch noch in einem einzigen, berückend klar gebauten Satz – dessen Nachdichtung Elke Erb Stunden und Tage gekostet haben muss.
Manchmal nur erweist sich das Jurjew'sche Sprachmikroskop als hinderlich übergenau, etwa wenn es nicht um Reflexion, sondern um Aktion geht. Im folgenden Beispiel wehrt sich der Jasytschnik-Spross heftig dagegen, von seiner älteren Schwester zwischen den Beinen gewaschen zu werden: „Mit einem dunklen schrecklichen Bums – fast gar einem Krach – rammen meine beiden Hacken ihre Brust, eine unter dem rechten Schlüsselbein, die andere, ein Sekundelstel später, unter der linken Burstwarze; nach Luft schnappend, lässt sie sich gegen das Gitter am Fußende fallen, rutscht mit Hintern und Flanke von dem wippenden Bett in die Hocke, einige Male öffnet und schließt sie dort unten (wie ein riesiger dunkler Frosch mit blendend – bis zur Platinbläue – blondem Kopf) den unbeleuchteten Mund (...)“ So bewundernswert viele Details in diesem Satz auch aufscheinen, so sehr überblenden sie die Bewegung, die eigentlich beschrieben werden soll.
An fast allen anderen Stellen hingegen wäre Verknappung völlig verfehlt. Die Lebewesen unter Jurjews Mikroskop bewegen sich in einer Nährlösung aus unzähligen Adjektiven, ohne ihre Petrischale jemals verlassen zu können. Der Autor hält sie in einer Sprache gefangen, die ein Äquivalent zu der gesellschaftlichen Bewegungslosigkeit der letzten Sowjetjahre ist. Darin ist er Uwe Tellkamp von entfernter Ähnlichkeit. In seinem modernen Klassiker Der Turm, der die späte DDR zum Thema hat, findet sich die gleiche Lust an der Beschreibung von Zerfall und Schlendrian, der gleiche Stillstand der äußeren Welt, der durch innere Bewegung kompensiert werden muss. Und in noch einem Punkt haben diese beiden sehr verschiedenen Bücher etwas gemeinsam: Sie sind Plunderkisten verschwundener Markennamen. Wo Tellkamp an ein vergessenes Spülmittel oder an „Plaste und Elaste aus Schkopau“ erinnert, kommen bei Jurjew „Rotwimpel-Galoschen“ vor, die „Skier Sowjetkarelien“ oder das polnische Parfum „Vielleicht“. Aber auch andere, scheinbar verschwundene Absonderlichkeiten des sowjetischen Alltags nimmt Jurjew unters Mikroskop, zum Beispiel den Sport- und Wehrkunde-Unterricht „Bereit zur Arbeit und zur Verteidigung“. Gerade einmal eineinhalb Jahre ist es her, dass der mächtigste Sowjetnostalgiker der Gegenwart, Wladimir Putin, dieses Unterrichtsfach in Russland wiederbelebt hat.
Keine Frage, Oleg Jurjews geheime Gänge führen noch heute von Militärbaracken zu orthodoxen Kirchen; sie reichen über die heutigen Grenzen Russlands hinaus bis auf die Krim und in die Ostukraine, bis nach Nordossetien und Transnistrien, und niemand weiß, wer oder was noch daraus hervorkommen wird.
Chapeau an den Autor für sein einmaliges Poesieoskop und ein Bolschoje Spasibo, ein Großes Dankeschön, an Elke Erb für ihre kongeniale Übersetzung.
|
|
|
Christian Lorenz Müller
Lyrik
Prosa
|
|