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Tina Strohekers
Luftpost für eine Stelzengängerin

Eine allererste Liebe von den möglichen zwei oder drei
Tina Strohekers „Luftpost für eine Stelzengängerin“
  Kritik
  Tina Stroheker
Luftpost für eine Stelzengängerin
Notate vom Lieben
Verlag Klöpfer & Meyer 2013
106 Seiten; 16 Euro


Emotionale Ernsthaftigkeit ist selten geworden in der zeitgenössi-schen Lyrik, ins­besondere dann, wenn es um die Liebe geht. Nicht wenige Auto­rinnen und Autoren igeln sich von vorn herein ein in Ironie oder betrachten ihren Gegenstand allein unter dem kalten Licht intel­lektuel­ler Skepsis. Die 1948 geborene Tina Stroheker steht diesen Ten­denzen gelas­sen gegenüber. Ohne im Geringsten gefühlig oder betulich zu sein, verstrahlen ihre Gedichte einen warmen, nicht selten tröst­lichen Schimmer, der auch ihr neues­tes Werk, einen Band mit „Notaten“, auszeichnet. Es ist eine ganz beson­dere Liebes­geschich­te, die hier rekapituliert wird, eine Ge­schichte, die einer Frau geschieht, die ihre „post­klimak­terische Haut“ im Spiegel be­trachtet und ganz genau weiß, dass sie mit dem „Mann ihres Lebens“ ver­heiratet ist.
  Es passiert derart unver­sehens in einer Bar in Wien, dass sämtliche Ge­wiss­heiten eines geord­neten Lebens davon völlig über den Haufen geworfen werden. Ein glück­li­ches Er­schrecken durch­zieht diese Luft­post­briefe; sie sind durch­schallt von einem ungläubigen Lachen über so viel unver­hofft Schönes, aber auch Schmerz­liches. Eine alternde Frau verliebt sich das aller­erste Mal in eine Frau, er­lebt zum aller­ersten Mal, wie es ist, wenn zwei weib­liche Körper auf­ein­an­der­treffen, und neunzig Notate lang treten ihre Lebens­erfahrung und ihr Re­flexions­vermögen weit zurück, über neunzig Seiten hinweg ist sie wieder so jung, so sehn­süchtig, so glück­lich und un­glück­lich wie man nur sein kann.
  Was Stroheker Notate nennt, wirkt wie ein Film, der aus mal chrono­logisch geordneten, mal aus rück­blenden­haft wir­kenden Stand­bildern besteht. Mit einer Tiefen­schär­fe, zu der wohl nur Lyriker fähig sind, zoomt die Dich­terin sprach­lich an ein­zelne Szenen und Bege­ben­heiten heran: Ein Wieder­sehen am Bahn­hof; Ge­schenke, die als „Vorspiel zum Vor­spiel“ ge­tauscht werden; ein Ausflug ins Grüne. Stro­hekers meist sehr kurzen Sätzen ist etwas Schwe­bend-Leichtes eigen, und doch kommen sie sehr oft auf eine Weise, die manchen Leser er­staunen dürfte, direkt zur Sache: Der nackte Körper der Gelieb­ten wird mit einem Blick betrachtet, der gemein­hin Männern zuge­schrieben wird: „Deine glatten Achsel­höhlen, die Brüste, wenn Du auf der Matratze liegst und sie zur Seite rutschen (…) diese Brüste, wenn Du Dich auf­rich­test und sie ihre Fülle zeigen dürfen.“ Diese un­ver­blümte, nur ab und zu meta­pho­risch ver­schlei­erte Sinn­lich­keit wirft genauso Fragen auf wie die Rollen­verteilung in dieser Ge­schichte. Ist die weit ver­breitete Vor­stellung, lesbischer Sex bestehe vor allem aus Zärt­lich­kei­ten, aus Streicheln und Küssen, viel­leicht falsch? Und wenn es so ist, gibt es dann ein Oben und Unten, einen dominanten und einen passiven Part? Was heißt das eigent­lich, männ­lich und weiblich, oben und unten?
  „Es ist so, ich sehe Dich mit den Augen einer Frau, die Dich sieht, wie ein Mann Dich sehen könnte, einer Frau, die Dich sieht, wie eine Frau Dich sehen kann“, schreibt Stroheker, aber wie passt das nun wieder zu der jün­geren Ge­liebten, die oft als kurz­haarig­burschi­kos be­schrie­ben wird? Fragen, die die Autorin sich tunlichst zu beant­worten hütet. Lieber lässt sie ihre Erzäh­lerin nach Grün­den für das, was ihr ge­schehen ist, for­schen. Da ist das sorg­fältig gehütete Bild einer jungen Frau, die sie in ihrer Studienzeit regel­mäßig nackt aus der Dusche treten sah, und da sind Erin­nerun­gen an Lektüren, an Filme, an Aus­stel­lungen. Sie tauchen zum Teil als Zitate in den Texten auf und deuten zusammen mit kursiv gesetz­ten Begriffen wie z.B. den dykes on bikes ein sprachlich-kulturel­les Bezugs­system an, zu dem der hetero­sexusuell Orientierte in der Regel wenig Zugang sucht. Die dykes on bikes, Lesben auf Motor­rädern, führen tradi­tionell die Regen­bogen­para­den an. Eine der­artige „schwarze Ritterin in lederner Rüstung“ ist es auch, die in Strohekers Buch schon bald für Tränen sorgt. Geht die Ge­liebte auf den Paraden zum Christopher-Street-Day nicht stets auf Stelzen direkt hinter den dykes on bikes? Die Erzäh­lerin begreift, dass sie nicht wirklich dazu­gehört, dass sie eine Weile im großen Demon­stra­tions­zug hat mitgehen dürfen, ihn nun aber ziehen lassen muss. Was folgt, ist ein schmerz­haftes Ab­schied­nehmen, das den­noch nicht sinn­los er­scheint: „Ich hatte Glück. Mitten in einem reichen Leben erhielt ich noch ein Geschenk, und begriff, nach­dem ich es ange­nommen hatte: Eine Hälfte des Zwil­lings hatte ich nicht gekannt.“
  Dieses Buch macht nicht nur darauf aufmerk­sam, wie verschiebbar die Grenzen zwischen männ­lich und weib­lich doch sind. Es wirft auch die Frage auf, ob es der Lite­ratur wirk­lich guttut, wenn in vielen Ver­lags­häusern die Kennt­nis dar­über, dass es nicht nur Ro­mane und Ge­dichte gibt, abhanden zu kommen scheint. In einer viel­fältigen, regen­bogen­bunten Welt sollte Texten, die aus einer Ver­quickung beider Diszi­plinen hervor­gegangen sind, unbedingt wieder mehr Platz ein­ge­räumt werden. Tina Stroheker und der Verlag Klöpfer&Meyer haben mit „Luftpost für eine Stel­len­gängerin“ bewiesen, wie gut dies funktio­nieren kann.
Christian Lorenz Müller     10.10.2013    

 

 
Christian Lorenz Müller
Lyrik
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