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Udo Kawasser
Ache

Der Autor als Forelle

Udo Kawasser fasst einen ganzen Gebirgsfluss
auf neunzig Seiten
  Kritik
  Udo Kawasser
Ache
Sonderzahl Verlag
Wien 2018
86 Seiten


Sommers sehnt sich der Mensch ans Wasser. Deshalb zwängt er sich ins Flugzeug, um sich im Süden mit tausenden anderen Urlaubern an einer trüben Bucht zu versammeln. Er könnte sich stattdessen auch aufs Fahrrad setzen und an den nächsten Bach, den nächsten Fluss pedalen – so wie Udo Kawasser das tut. Der Wiener Autor hat das Gewässer seiner Kindheit und Jugend, die Bregenzer Ache, über zwei Jahre hinweg immer und immer wieder aufgesucht. Dabei ist es ihm das schier Unmögliche gelungen: Einen ganzen Gebirgsfluss zwischen zwei Buchdeckel zu bringen, ohne ihn zu Schrift erstarren zu lassen. Öffnet man den Band, gluckst und glänzt die Ache in der Sonne. Sie strömt sandfarben über schlickige Steine oder wird bei Hochwasser „zu einer einzigen gurgelnden, graubraun dahinklotzenden Fläche“.
  Aber was genau ist ein Fluss? Wo beginnen seine Ufer, wo enden sie? Gehört die schon seit Jahren wieder zu Wald gewordene Kies- oder Sandbank noch dazu, zumal nach ein paar Stunden schwerer Regenfälle alles schon wieder ganz anders aussehen kann? „den Fluss gibt es nicht, nur eine tagein, tagaus pulsierende Gestalt, die mein Schreiben immer aufs Neue herausfordert“, schlussfolgert der Autor. Dem passt er die Form seiner Prosa an. Sie wirkt viel bruchstückhafter und rauer als die Betrachtungen, die sich in seinem 2016 erschienen Vorgängerband „Unterm Faulbaum“ finden. In diesem Buch geht es um ein stehendes Gewässer, nämlich um die Alte Donau in Wien, zu der der vielreisende Autor immer und immer wieder zurückkehrt. Die Ruhe, die er dort findet, verwandelt Kawasser in wunderbar poetische Meditationen, in Natur-, Sprach- und Weltreflexionen, die sich in eine Tradition einfügen, welche es seit Mitte des 19. Jahrhunderts, seit Henry David Thoreaus Walden, gibt, ohne dass sich bisher in der deutschsprachigen Literatur wirklich Nachahmer gefunden hätten: Nature Writing meint im englischsprachigen Kulturraum ein hochreflexives Schreiben über Natur, das den lyrischen Ausdruck ebenso kennt wie den essayistischen oder den epischen.
  Aber zurück zur Bregenzer Ache: Ache, das ist ein Wort, das „ohne Widerhall bleibt (…) solange man es nicht mit dem lateinischen Wort für Wasser, aqua, in Verbindung bringt, das ebenso wie die althochdeutsche Form aha (gesprochen: acha) einen kehligen Mitlaut zwischen zwei dunkle a gepackt hat.“
  Ache ist also ein Begriff für das Wasser an sich, daher reißt Kawassers Sprache einmal wild über die Seiten, dann strudelt sie in tiefen Becken ruhig aus oder staut sich vor einem Wehr. Der Autor schreibt auf hitzeglühenden Kies- oder Sandbänken liegend oder auf hochwaserfeuchtem Schwemmholz sitzend; im Winter notiert er im Stehen, bis ihm der Frost die Fingerspitzen versengt. Auch deswegen sind diese Texte das genaue Gegenteil von trockener Schreibtischarbeit. Trotzdem wäre es vollkommen falsch, sich den Autor als biederen Naturpoeten, der einen Fluss romantisiert, vorzustellen. Bei aller überschäumenden Lebendigkeit, bei aller spürbaren Liebe zum springenden Wasser der Kindheit schimmert doch auch immer nüchterne Klarheit aus den Zeilen. Zum Thema Moos zum Beispiel streut Kawasser ein kurzes Gedicht ein, das gewissermaßen zum Angreifen ist, gleichzeitig aber erstaunlich konturiert bleibt:

von anwallendem Wasser
und schlamm überflossenes vlies
die abrasierende kraft von sand im fluss
gegen die das moos sanftheit hält
sein wechselnasses frottee

Der 1965 geborene Udo Kawasser ist nicht nur ein Dichter, sondern auch ein Tänzer. Deshalb vielleicht überträgt sich die Bewegungsfreude des Wassers derart unmittelbar nicht nur auf ihn selbst, sondern auch auf seine Sprache. Im hinteren Teil des Buches zum Beispiel spielt er eines seiner „Achspiele“: Auf den Flussgrund tauchend, hangelt er sich von Steinbrocken zu Steinbrocken gegen die Strömung, er verwandelt sich in eine Forelle, die im Wasser steht. Überhaupt ist das letzte Drittel des Bandes voller sprachlicher Verwandlungen: Der Autor zieht das immer schmäler werdende Gewässer hinauf bis zu seiner Quelle auf 2.500 Metern Höhe und notiert: „eine Form von Verrücktheit, mich zu verrücken, aus der Alltagswahrnehmung an den Rand des Vorstellbaren zu katapultieren: das Meer in die Vertikale kippen, denn was anderes ist der Kalkstein (…) als die Überreste der kalkhaltigen Außen- oder Innenskelette von Kleinstlebewesen, die vor Urzeiten im Schelfmeer absanken“.
Sich aus der „Alltagswahrnehmung an den Rand des Vorstellbaren zu katapultieren“ ist wohl eine der vielen möglichen Definitionen von Poesie. Udo Kawasser hat mit Ache diesen Rand erreicht: auf spielerische, wuchtige, schäumende und sanfte Art, ganz wie das Wasser selbst.
Christian Lorenz Müller     2018    

 

 
Christian Lorenz Müller
Lyrik
Prosa