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Hannes Stein
Der Komet

Das missglückte Attentat von Sarajewo und seine Folgen
Ein alternativer Geschichtsentwurf von Hannes Stein
  Kritik
  Hannes Stein
Der Komet
Galiani, Berlin 2013
270 Seiten; Euro 18,99


Wie Europa aussehen würde, wenn die Nazis den Zweiten Weltkrieg gewonnen hätten, wissen wir spätestens seit Robert Harris' Bestseller Vaterland: In diesem Buch hat Hitler den Kontinent auf eine Art und Weise umge­staltetet, die uns wohlige Schauder des Schreckens über den Rücken jagt: Bequem im Lese­sessel aus­gestreckt, glauben wir glücklich davon­gekommen zu sein, weil die Geschichte in der Realität einen anderen, besseren Verlauf genommen hat. Wie selbst­zufrieden naiv dieser Blick nach Anti-Uto­pia eigent­lich ist, zeigt Hannes Steins Roman­erstling Der Komet auf ver­blüffende Weise. Stein, der 1965 in München gebo­ren wurde und inzwi­schen als Jour­na­list in New York lebt, ist es gelungen, eine Welt zu ent­werfen, die wir uns, gerade weil sie so fried­lich, ja arglos ist, nicht mehr vor­zu­stellen ver­mögen.
  Als Ausgangspunkt nimmt Stein den Besuch des österreichischen Thron­folgers Franz Ferdinand im Sarajewo des Jahres 1914. Als bei seiner Fahrt durch die Stadt eine Bombe am Straßenrand detoniert, die nicht viel Schaden anrichtet, kehrt er flugs nach Wien zurück, statt, wie in Wirklichkeit gesche­hen, heroisch sein Besuchsprogramm durchzuziehen und dabei vor Gavrilo Princips Pistole zu laufen. Dieser besonnene Franz Ferdinand wird in Steins Roman zwei Jahre später Kaiser eines Viel­völker­reiches, das er nach und nach parla­menta­risch moder­nisiert. Weil es nicht zum Ersten Weltkrieg kommt, bleiben die Monarchien Europas bestehen; da Deutschland keine drückenden Repa­rations­zahlungen leisten muss und es keine Weltwirtschaftskrise gibt, haben rechts­radi­kale Hetzer keine Chance, und der Zweite Weltkrieg bleibt aus. Man stelle sich das vor: Wir haben keine Ahnung von der Zerstörungskraft, die Panzern und Raketen, Gift­gas und Atom­bomben inne­wohnt; wir wissen nichts von Ver­nichtungs­lagern, in denen Menschen bestia­lisch ermordet werden, weil sie einer bestimmten Volks­gruppe oder Religion ange­hören. Wären wir in diesem Fall nicht ganz anders als heute, viel gut­gläubiger und vertrauens­voller?
  Hannes Steins Figuren zumindest ist nichts Abgründiges, Ambivalentes eigen. Da gibt es zunächst einmal Alexej, einen Studenten, der sich in die wesent­lich ältere Barbara Gottlieb verschaut. Deren Mann, ein „k u. k. Hofastronom“, wird zur gleichen Zeit in zunächst noch geheimer Mission auf den Mond beordert. Dort haben die Deutschen, die in Hannes Steins Roman tech­nisch die Welt dominieren, eine ganze Stadt errichtet, zu der auch ein Observatorium gehört. David Gottlieb wird ein gewaltiger Komet gezeigt, der auf die Erde zurast und mit unabwendbarer mathematischer Genauigkeit zuerst die Stadt Wien und dann die ganze Menschheit vernichten wird. Während der Astronom schwitzend nach einem Rechenfehler sucht, erleben dessen Ehefrau und Alexej ein paar züchtige amouröse Abenteuer. In groben Zügen ist das auch schon die ganze Geschichte, die ohne den ver­änderten histo­rischen Blick­winkel bestimmt nicht beson­ders lesenswert wäre. Außerdem setzt Stein eine Vielzahl von Nebenfiguren ein, mit denen er die vor­herr­schen­den gesellschaftlich-politischen Ver­hält­nisse gekonnt illustriert. Obwohl ein Mondflug für jeder­mann buchbar ist und Elektromobile längst die Fiaker ersetzt haben, herrscht eine eigentümlich altväterliche Ordnung, zu der auch eine Kaiser­treue gehört, die uns abge­brühten Demo­kraten reich­lich merk­würdig erscheint. Es regiert Franz Joseph II., wie sein Großvater gleichen Namens eine Figur, für die Macht nicht mit Möglich­keit und Will­kür, sondern vor allem mit Pflicht und Disziplin ver­bunden ist. Die persön­liche Inte­grität seiner Majestät ist die Kraft, die das riesige Reich zu­sammen­hält. Dessen Zen­trum wiede­rum ist ein Wien, in dem es nicht nur an jeder Ecke gemüt­liche Kaffee­häuser, son­dern auch koschere Restau­rants und Läden gibt. Auf den Stra­ßen tummeln sich neben zahllosen Juden auch Slowenen und Slowaken, Ungarn, Ruthe­nen, Kroaten, Bosnier, Böhmen und Mähren, kurz: Dieses tolerante, welt­offene Wien ähnelt dem New York unserer Tage, während die der­zeitige Hauptstadt der Kunst und der Kultur in Hannes Steins Roman in die zweite Reihe rückt. Überhaupt, die USA: Ein Staat der Cowboys und der Hinter­wäldler, der keinerlei kulturelle Reformen hervor­gebracht hat.
  Aber das kann bei genauerem Hinsehen von der alten Welt eigent­lich auch nicht behauptet werden. Lenin ist ver­bit­tert in Zürich ge­storben, Kafka allein ein Thema für Freaks, die Anti­quariate nach Literatur von absurder Düsternis durch­stöbern, und obwohl es durch­aus Psycho­analyti­ker gibt, kommt der größte Teil der bie­deren Ein­wohner­schaft wohl gut mit geist­lichem Beistand aus. Jene späte wissen­schaft­liche und kultu­relle Blüte Alt­öster­reichs, die uns bis heute aus unzäh­ligen Büchern und Gemäl­den ent­gegen­leuchtet, nimmt sich in Steins Kakanien seltsam matt aus. Das muss wohl so sein, denn Monarchien sind ihrem Wesen nach stets konser­vativ. Ohne die über­kommene Ordnung der Welt in ein Oben und ein Unten, die un­trenn­bar mit festen Vor­stel­lungen von Gut und Böse verknüpft ist, funktio­nieren sie nicht. Und so kommt Freud, der diese Ord­nungs­prinzi­pien radikal in Frage gestellt hat, in Steins Kosmos nur eine – wenn auch wit­zige – Nebenrolle zu: Ein Psycho­ana­lytiker bekommt es mit einem Patienten zu tun, der grauenhafte Träume hat. Die oben ge­nannten Pan­zer kommen darin ebenso vor wie Kinder, die samt ihres Erziehers von Uni­for­mier­ten er­schos­sen werden. Der Analy­tiker vermag für diesen amen Mann, der einen An­sichts­karten­maler mit dem Namen Hütt­ler zum Vor­fahren hat, keine passende Therapie zu finden.
  Als David Gottwald vom Mond zurückkehrt, bleibt noch ein Jahr bis zum Exitus der Erde; für den verliebten Alexej hingegen geht die Welt schon in jenem Moment unter, in dem der Hof­astro­nom seine Frau wieder in seine Arme schließt. An­sonsten ver­streicht das letzte Jahr des blauen Planeten seltsam ereignis­los. Franz Josephs Untertanen gehen ihren Geschäf­ten nach, als lebten sie allesamt in völligem Ein­klang mit den Konventionen. Kaum jemand ver­fällt reli­giösen Wahn­vor­stel­lungen, niemand will vor dem unaus­weichlichen Ende alte Rech­nungen beglei­chen oder sich rücksichtslos einen lang gehegten Wunsch er­fül­len. Die allge­meine Ordnung ist selbst am Tag des Welt­unter­gangs aufrecht, geht der Wiener doch bei bestem Wetter zum Heurigen oder hinaus auf den Cobenzl, einen Aus­sichts­berg in der Nähe der Stadt. Als dort kurz vor Ultimo Franz Joseph II. ein­trifft, stimmen die österreichischen Gemüts­menschen doch tat­säch­lich die Kaiser­hymne an.
  Dieses allzu treuherzig-humoris­tische Ende und die bieder­sinnige Figuren­zeichnung sollten aber nicht über­bewertet werden. Stein geht es vor allem darum, uns zu zeigen, wie viel Unschuld und Arg­losig­keit wir für immer verloren haben, und das ist ihm mit diesem Roman ganz ausge­zeichnet gelungen.
Christian Lorenz Müller     04.05.2013    

 

 
Christian Lorenz Müller
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