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Mascha Dabić
Reibungsverluste

Die Dolmetscherin als Alchemistin der Sprache

Was genau passiert beim Dolmetschen?
Mascha Dabić gibt in ihrem Debütroman kluge Antworten.
  Kritik
  Mascha Dabić
Reibungsverluste
Roman
Edition Atelier, Wien 2017
151 Seiten, Euro 18,00


Die perfekte Dolmetscherin wäre wohl eine stets ausgeglichene Person mit einer angenehm neutralen Stimme, ein Wesen möglichst ohne eigene Gefühle und Gedanken, das ruhig in seiner Ecke sitzt und nichts anderes tut, als Sätze von der einen Sprache in die andere zu bringen. Ein Wesen selbstredend auch ohne Zweifel am eigenen Können, an den eigenen Kenntnissen über Vokabeln, Grammatik, Satzbau. Dass Dolmetscherinnen und Dolmetscher eben dies alles nicht sind, erfährt man aus Mascha Dabis erstem Roman Reibungsverluste, der einen Tag im Leben einer Übersetzerin nachzeichnet.
  Die Hauptfigur Nora ist eine sympathisch-schusselige junge Frau, die ständig zu spät kommt und immer wieder heftig mit der Erinnerung an ihren Ex-Freund Vladimir kämpft, mit dem sie in St. Petersburg zusammengelebt hat. Nora ist bei einem Verein beschäftigt, der Psychotherapie für Asylbewerber anbietet. Wer nach gut einem Jahr Wartezeit einen Platz ergattert – und das sind in Reibungsverluste vor allem Tschetscheninnen und Tschetschenen – sitzt der „mütterlich-verständnisvoll“ lächelnden Therapeutin Roswitha gegenüber. Und natürlich Nora, die schon zu Beginn einer Stunde daran zweifelt, ob sie Roswithas Frage an die Klientin „Ja, also, wie geht es Ihnen heute?“ mit der Alltagsphrase „Kak waschi dela?“ dolmetschen oder doch lieber auf Russisch „Wie fühlen Sie sich heute“ formulieren soll. Und wenn die Tschetschenin dann sagt, sie sei „wsja na njerwach“, kann Nora nicht einfach wörtlich wiedergeben, sie sei „ganz auf Nerven“, sondern überlegt, ob sie „meine Nerven liegen blank“ sagen soll. „Nervös“ scheint ihr nicht der richtige Ausdruck, da man damit ja „eher so etwas wie Aufregung, möglicherweise sogar freudige Erwartung“ verbinde.
  Kein Wunder, dass Nora nach jeder Therapiesitzung ausgelaugt ist, dass sie sich an Kaffee und Zigaretten hält, um mit dem, was sie nicht nur gehört, sondern in einem „alchemistischen Prozess“ auch Roswitha zugänglich gemacht hat, fertig zu werden. Denn was die tschetschenischen Frauen oft erst nach langem Zögern preisgeben, grenzt an den blanken Horror, und dann ist da noch die ständige Angst der Klientinnen vor einer möglichen Abschiebung. Reibungsverluste ist dennoch kein Buch, das auf die Tränendrüse drückt oder politische Erwartungen befriedigt. So haben es Nora und Roswitha auch einmal mit einem Tschetschenen zu tun, der schon öfters beim Schwarzfahren erwischt worden ist und sich nicht den Teufel darum schert, die Strafe zu bezahlen: Werde er eingesperrt, warte seine Frau eben auf ihn, und die österreichischen Gefängnisse seien für einen wie ihn ohnehin das Paradies.
  Ein wenig schade ist es, dass die Autorin den Klienten nach den Therapiesitzungen jeweils kurz eine eigene Stimme gibt. Weil dabei nur wiederholt wird, was Nora und Roswitha vorher herausgefunden haben, wirkt das mehr beteuernd als erweiternd und bringt keine neuen Erkenntnisse. Noras Ex-Freund Vladimir hingegen kommt zu kurz. Da Russisch seine Muttersprache ist, wäre bei einer etwas sorgfältigeren Figurenzeichnung durchaus eine Art Parallelhandlung auf Beziehungsebene möglich gewesen, ein Dolmetschen nicht nur zwischen zwei Sprachen, sondern auch zwischen zwei Liebenden. Aber vielleicht erzählt uns Mascha Dabic, die selbst als Übersetzerin und Dolmetscherin arbeitet, davon ja in ihrem nächsten Buch.
Christian Lorenz Müller     19.08.2017    

 

 
Christian Lorenz Müller
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